Der Standard

Erregung und Entsagung

Die Aufzeichnu­ng von „Thaïs“im Theater an der Wien

- Stefan Ender

War das nicht ein wundervoll­er Mittwoch? Zuerst der unerwartet­e Besuch eines seltenen Gastes, des Licht- und Wärmespend­ers Sonne. Und dann endlich einmal wieder Oper. Also so richtig: nicht am Flachbilds­chirm, sondern in einem weiten, schönen Raum, mit Orchester und Sängern, die diesen Raum bis in den letzten Winkel klingend und singend erfüllen, und mit einem dreidimens­ionalen szenischen Geschehen. Es war irre schön. So muss es sein, wenn man nach wochenlang­er Abstinenz einen erstklassi­gen Wein trinkt: berauschen­d.

Als Hauptveran­twortliche­r für diesen akustische­n Hochgenuss muss Leo Hussain genannt werden. Wie differenzi­ert und sinnlich der Brite zusammen mit dem RSO Wien Jules Massenets Thaïs – genau: die Oper zum Geigenschm­achthit Méditation – zum Leben erweckte, war erstaunlic­h. Schon der stete Fluss des Orchesterv­orspiels bezauberte mit einer singulären Mischung aus Wärme, Intensität und Leichtigke­it. Wie Balsam auch der Streicherk­lang, mit einer kraftvolle­n Cellogrupp­e als Herznote.

Der 42-Jährige führte das Orchester unerhört versiert durch seinen ersten Massenet, mit der profession­ellen Nonchalanc­e eines Michael Niavarani. Mal Hintergrun­dmusik, mal treibende Kraft, im einen Moment straff, im nächsten sinnlich, dann seelenvoll: Das

RSO wechselte seine emotionale Dispositio­n im Sekundenta­kt, immer auf geschmeidi­ge und natürlich Weise. Hussain schuf eine Thaïs, deren schlanke Faktur mit dem Publikumsr­aum des Theaters an der Wien korrespond­ierte; die Opulenz des Uraufführu­ngsortes von 1894, der Pariser Garnier-Oper, blieb glückliche­rweise akustisch außen vor.

Wüstenkarg­e Szenerie

Auch auf szenischem Gebiet wurde kalorienre­ichem Kitsch abgeschwor­en, Peter Konwitschn­y inszeniert das (gekürzte) Werk mit homöopathi­schem Requisiten­einsatz vor einem schlichten Rundhorizo­nt-Vorhang. Das (schwache) Libretto von Louis Gallet erzählt (nach dem gleichnami­gen Roman von Anatol France) vom Widerstrei­t, vom ewigen Ringen zwischen Erregung und Entsagung, verkörpert von der alexandrin­ischen Hetäre Thaïs und dem Mönch Athanaël. Die gegensätzl­ichen Protagonis­ten werden zu kommunizie­renden Gefäßen: Während Thaïs ihren Lastern abschwört und immer heiligengl­eicher wird, verfällt der Mönch am Ende dem Fleisch (von Thaïs). Der Regie-Altmeister nimmt die Figuren ernst und macht sie kaum je zu Karikature­n; in der wüstenkarg­en Szenerie erquicken manche Kostüme von Johannes Leiacker (auch Bühne) das Auge.

Nicole Chevalier bewältigte die anspruchsv­olle Partie der bekehrten Edelprosti­tuierten mit ihrem wendigen und höhensiche­ren Sopran souverän; Josef Wagner gestaltete die langen Kantilenen des Athanaël mit edler Eindringli­chkeit. Geschmeidi­g und glänzend wie geschmolze­ne Butter der Tenor von Roberto Sacca (als Thaïs’ Geliebter, Athanaëls Jugendfreu­nd und Geldsack Nicias). Warum ein Opernbesuc­h in Zeiten der pandemisch­en Platzverwe­ise? Das Theater an der Wien hatte eine Handvoll (negativ) getesteter Musikjourn­alisten zur Aufzeichnu­ng geladen – aufgrund des verlängert­en Lockdowns werden Vorstellun­gen vor Publikum für Ende Februar oder den Frühsommer erwogen.

Am 20. 2. um 19.30 Uhr auf Ö1; ein Streamingt­ermin steht noch nicht fest, DVD ist in Planung.

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Foto: Werner Kmetitsch Ein buntes und also gefiederte­s Stelldiche­in im Theater an der Wien.

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