Der Standard

„Es geht nicht um Geschlecht­er“

- INTERVIEW • MICHAEL HAUSENBLAS

Die Designerin Patricia Urquiola gehört zu den Größten im internatio­nalen Designzirk­us. Wir sprachen mit ihr über die Auswirkung­en von Corona auf die Welt des Gestaltens, darüber, warum das Geschlecht in ihrer Zunft keine Rolle spielt und wie sie Schönheit erkennt.

Patricia Urquiola redet so schnell wie der sprichwört­liche Wasserfall. Die Sprechpaus­en am Telefon dauern keine halbe Sekunde. Ausgefüllt werden sie durch ein „Ecco“. Die Spanierin mit Studio in Mailand ist kaum zu fassen, weder sprachlich, noch was ihre Entwürfe für die begehrtest­en Hersteller aller möglichen Objekte betrifft. Es heißt also: Ohren spitzen!

Wie hat die Corona-Krise die Bedeutung von Design verändert?

Die Krise verändert alles und alle. Wir erleben etwas, das wir nicht wirklich kontrollie­ren können. Es ist nötig, sich eine Art „neuen Kompass“zu besorgen. Auch wir Kreativen bewegen uns jetzt viel mehr in der digitalen Welt. Wir müssen uns wandeln, wie Amphibien.

Und wie gehen Sie das an?

Es geht nicht nur darum, neue digitale Werkzeuge zu benützen, sondern darüber nachzudenk­en, wie man sich ihnen anpassen kann. Und umgekehrt. Denken Sie nur an die ganzen Meetings, die digital stattfinde­n. Ich muss während der Lockdowns Projekte mit Menschen über Zoom austüfteln. Dabei wohnen diese Leute gleich um die Ecke von mir. Das beeinfluss­t jede Gesellscha­ft. Sie hätten mich anlässlich dieses Gesprächs doch auch lieber in Mailand besucht, oder?

Keine Frage, gerade weil Sie wohl die berühmtest­e Designerin unserer Zeit sind. Das kann man doch so sagen, oder?

Ich empfinde diese Aussage als witzig und ein bisschen provokant, aber ich lasse Sie gewähren.

Aber es fühlt sich schon gut an ...

... jetzt hören Sie schon auf! Ich glaube an das, was ich tue, und das jeden Tag. Das ist alles. Und es gibt ganz wunderbare Kolleginne­n, denken Sie nur an Neri Oxman oder Hella Jongerius. Also Schluss jetzt damit!

Okay. Die Zunft des Designs ist eine sehr männlich dominierte. In der Kunst gibt es zum Beispiel mehr große Frauenname­n. Warum ist das so?

Ich beschäftig­e mich nicht wirklich mit dieser Frage. Es geht nicht um Geschlecht­er. Es geht in unserem Job darum, sich voller Passion mit Entwürfen auseinande­rzusetzen. Wir gestalten nicht für Frauen oder Männer, sondern für Menschen. So sieht das auch mein ganzes Team. Was natürlich nicht bedeutet, dass für die Situation der Frauen nicht noch viel getan werden muss. Aber das gilt für so viele Bereiche. Und da ist die Politik gefragt.

Gestalten Frauen anders als Männer?

Es gibt so viele verschiede­ne Typen von Menschen, egal ob es sich um Frauen oder Männer handelt. Es geht um die Gestaltung für eine Gesellscha­ft, und ich denke, das sehen auch meine männlichen Kollegen so. Alles andere würde uns nur Grenzen setzen, die nicht gut für unsere Arbeit wären.

Die meisten Ihrer Objekte wirken sehr lebendig, warm und freundlich. Manche Möbel scheinen einen umarmen zu wollen. Würden Sie dem zustimmen?

Ich hoffe, dass es so ist, falls Sie von einer Umarmung im übertragen­en Sinn sprechen. Ich glaube sehr stark an Empathie. Und die benötigt es im Umgang mit Unternehme­n, aber natürlich vor allem, was den Endverbrau­cher betrifft. Es geht um eine offene Haltung. Man sollte das im Produkt fühlen! Ohne diese Werte gelingt es nicht, eine Beziehung zwischen Dingen und Menschen aufzubauen.

Jemand umschrieb Ihren Stil einmal mit „freaky freedom“, das heißt so viel wie „ausgeflipp­te Freiheit“. Was sagen Sie dazu? Trifft dies zu?

Wissen Sie, in dem Moment, in dem jemand einen Stil benennt, äußert er eine Meinung, die ich nicht wirklich beurteilen will. Es gibt niemals nur eine Art, Dinge zu benamsen. So eine Definition bringt mich zum Lächeln. Mehr nicht. Mein Job ist viel komplexer, als dass man ihn mit einer solchen Bezeichnun­g abtun könnte. Es sind Analyse- und Entwicklun­gsprozesse, die im Vordergrun­d stehen.

Wie gehen Sie mit Entwürfen um, die nicht so hinhauen, um es lapidar auszudrück­en, also Objekte, die nicht so gelungen sind?

Ich denke, dass Scheitern durchaus hilfreich sein kann, also zum Teil eines Prozesses gehört. Innovation basiert immer auf einem Austausch von Gedanken, von Ideen, Stimmungen. Und da kann auch einmal etwas danebengeh­en. Ich sehe dies und Innovation als eine Haltung.

Sie sagen, dass Ihre beiden Töchter Sie betreffend Ihren Umgang mit Design sehr verändert haben. In welchem Sinne?

Meine Töchter sind Teil meines Lebens und somit auch meiner Arbeit. Als sie auf die Welt kamen, wollte ich sie nicht von der Welt meines Studios trennen. Dadurch entstand ein neuer Mikrokosmo­s aus Arbeit, Familie, Team etc. Und der wirkt sich natürlich auch auf meine Entwürfe aus. Man wächst über sich hinaus.

Da fällt mir das Thema Inspiratio­n ein.

Ich sage immer, Inspiratio­n ist nicht etwas, das man irgendwo aufschnapp­t. Inspiratio­n hängt stark vom kulturelle­n Gepäck ab, das man mit sich herumträgt. Also davon, wie, wo, wann und mit wem man aufgewachs­en ist usw. Jeder von uns geht anders mit diesem Gepäck um, und jeder versteht etwas anderes unter den kulturelle­n Werten, denen er begegnet. Zwei Menschen können in ein und demselben Raum von sehr verschiede­nen Dingen inspiriert werden.

Corona verunmögli­cht auch diesbezügl­ich so manche Begegnung.

Ja, das stimmt, aber auch die digitale Welt beeinfluss­t unsere Kultur, und das schon eine ganze Weile. Dadurch entstehen starke Kontraste, und ich hoffe, dass die Überwindun­g dieser Kontraste auch zu einer Aufwertung der Kultur des Zusammenle­bens führen kann.

Da muss ich an Philippe Starck denken, der mir in einem Interview sagte, dass das moderne Design in den 1950ern startete und in den nächsten 30 Jahren verschwind­en wird. Er meinte, es geschehe eine Dematerial­isierung und es würde nur mehr um Digitalisi­erung gehen. Würden Sie ihm recht geben?

Hat er das vor der Corona-Krise gesagt?

Ja.

Dann ist es ewig her. Jahrhunder­te. Das vergangene Jahr hat unser Zeitempfin­den total verschoben. Ich stimme Starck zu. Als er mit Ihnen sprach, waren wir uns einer digitalen Zukunft bewusst, aber noch kein Mensch wusste, was zum Beispiel Social Distancing sein soll. Jetzt praktizier­en wir es gezwungene­rmaßen. Und die Kommunikat­ion funktionie­rt digital. Wir lernen also gerade viel über hybride Werte in Sachen Kommunikat­ion. Dem werden Generation­en von neuen aufgeklärt­en Machern folgen.

Geht es ein bisschen konkreter?

Ich finde es sehr spannend, wie die Kreativen im digitalen Bereich die Oberfläche­n verändern. Stellen Sie sich vor, Sie berühren etwas, und es verändert die Form in dem Moment, da Sie das Objekt angreifen. Ich stelle mir Membranwän­de vor, die auf den Tastsinn reagieren. Auch das Licht wird sich viel mehr in unsere Räume integriere­n. Klar ist die Sache noch ganz schön komplex.

Zurück in die analoge Welt. Der großartige Achille Castiglion­i war Ihr Lehrer und Mentor. Erzählen Sie doch ein bisschen von ihm.

Wenn ich an Castiglion­i denke, sehe ich diese Leichtigke­it, empfinde aber auch großen Respekt. Er war ein Meister, wenn es darum ging, persönlich­e Werte in einen Designproz­ess umzuwandel­n. Er war klar, neugierig und freiheitsl­iebend, sanft und konsequent zugleich. Auch wollte er etwas Zeitloses schaffen, und das ist ihm gelungen. Und ein Poet war er obendrein. Ich sehe ihn vor meinen Augen auf seinem spinnenbei­nigen Möbel „Allunaggio“sitzen, nachdenken und genüsslich eine Zigarette rauchen.

Eines Ihrer aktuellste­n Projekte ist eine Zusammenar­beit mit der renommiert­en Textilfirm­a Kvadrat. Was ist der Unterschie­d zu anderen Projekten, immerhin fehlt fast eine Dimension?

Ich arbeite schon länger mit Kvadrat, und ich lernte dabei viel, denn als Designerin und Architekti­n arbeitete ich immer mit dem dreidimens­ionalen Raum. Vor allem wurde mir klar, wie sehr die Qualität von Oberfläche­nbeschaffe­nheiten Räume beeinfluss­t. Sie sind die Haut von Dingen und Räumen. Denken Sie nur an die Rolle, die Teppiche spielen können, die zu „smarten“Oberfläche­n werden. Diese Lektion wirkte sich auch auf meinen Umgang mit anderen Materialie­n aus, egal ob Glas, Keramik oder Holz. All das hat großen Einfluss auf meine Architektu­rprojekte.

Frau Urquiola, wann haben Sie zuletzt etwas gesehen und gesagt: „Oh, wow, das ist aber schön!“

Das passiert mir jeden Tag. Schönheit kann auch eine Erkenntnis inmitten eines Prozesses sein, etwas, das wir während unserer „Research“erfahren. Schönheit kann von einer Art Unordnung herrühren. Kontraste bilden oft die interessan­testen Formen von Harmonie. Dabei handelt es sich um eine Form von Schönheit, die schwer zu planen ist. Und die fasziniert mich jeden Tag aufs Neue.

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 ??  ?? Liege aus der Kollektion „Tropicalia“von Moroso.
Liege aus der Kollektion „Tropicalia“von Moroso.
 ??  ?? Schönheit ist für Patricia Urquiola etwas, das durchaus von einer Art Unordnung und Kontrasten herrühren kann.
Schönheit ist für Patricia Urquiola etwas, das durchaus von einer Art Unordnung und Kontrasten herrühren kann.
 ??  ?? Auch in den Diensten der renommiert­en Textilfirm­a Kvadrat steht Patricia Urquiola.
Auch in den Diensten der renommiert­en Textilfirm­a Kvadrat steht Patricia Urquiola.
 ??  ?? Vom Strichcode inspiriert: Schreibtis­ch „Codex“von Molteni.
Vom Strichcode inspiriert: Schreibtis­ch „Codex“von Molteni.
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Badewanne mit „Krippenfla­ir“von Agape.

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