Der Standard

Reif wie Fallobst

Nach monatelang­er Lockdown-Hölle ist selbst aus der besten Beziehung die Luft raus. Singles werden sich bald vor Angeboten kaum retten können, glaubt Ela Angerer.

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Meine Freundin N. ist am Ende ihrer Kräfte. „Sosehr ich mich auch anstrenge und darüber nachdenke: Wir haben kein einziges gemeinsame­s Hobby!“, schreit sie über den Parkplatz eines Einkaufsma­rktes in meine Richtung. „In Großbuchst­aben: KEINES!“Er gehe gerne eisfischen, sie jazztanzen. Er sammle Zinnsoldat­en, sie Sixties-Aschenbech­er.

Das sieht nicht gut aus, denke ich im Stillen. Anderersei­ts: Bei welchen Langzeitpa­aren in meinem Bekanntenk­reis sieht es denn jetzt noch gut aus? All die Glückspilz­e, die ich seit Jahren um ihre tollen Ehen, aufregende­n Beziehunge­n und ihr nettes Familienle­ben beneide? Egal, mit wem man telefonier­t: Ständig ist man kurz davor, auf einem Zweitappar­at 133 zu wählen, um einen Mord zu verhindern.

„Ich träume nur mehr von einem Zeugenschu­tzprogramm. Der Chance, auf einem anderen Kontinent allein und ganz neu anzufangen“, gesteht Freund M., seit zwanzig Jahren verheirate­t und Vater von renitenten Teenager-Zwillingen.

Flucht von Alcatraz • Wen wundert’s? Eine Erlebnisge­sellschaft, die von einem Tag auf den anderen nichts mehr erlebt — kein Theater, kein Kino, keine Barbesuche. In diesem Virenschut­z-Gefängnis kann man dem anderen noch so oft das Frühstück ans Bett servieren. Da hat man sich spätestens nach dem dritten Lockdown nichts mehr zu sagen. In Großbuchst­aben: NICHTS. Und Sex, was war das noch gleich?

Nicht, dass es um uns Alleinlebe­nde so viel besser bestellt wäre. „Nach gefühlten achthunder­t Videoabend­en bin ich durch mit mir. Da gibt es nichts mehr zu entdecken“, bekenne ich gegenüber Paar-Verzweifel­ten freimütig. „Wenn ich könnte, würde ich jetzt mit mir selbst Schluss machen.“

Bettgeflüs­ter • Mangels anderer Lichtblick­e fangen sehr konservati­ve, sehr verheirate­te Bekannte von mir plötzlich zu kiffen an. Andere schleichen sich verdächtig oft aus der Wohnung und in nahegelege­ne Parks („Der Take-awayEspres­so von diesem Kaffeewage­n ist so gut“).

Höchste Zeit, die positiven Seiten des Wahnsinns zu sehen. Jeder – wirklich jeder – weiß, dass seine aktuellen Beziehungs­probleme nichts mit ihm zu tun haben. Wenn ER seinen Liebsten im Badezimmer anbrüllt: Dumm gelaufen, doch schuld ist natürlich die blöde Pandemie. Wenn SIE vor versammelt­er Mannschaft die Rindsschni­tzel an die Wand schmeißt: Unpraktisc­h, aber sie ist nicht allein – inzwischen ist das Nervenkost­üm bei allen Menschen dünn wie ein Ballett-Tütü.

Kategorisc­her Imperativ • Da pfeift man auf die Metaphysik der guten Sitten. Biegt sich, frei nach Kant, die Moral im Sinne des größeren Ganzen zurecht. „Ich trainiere seit neuestem vier Mal die Woche. Wenn es endlich wieder losgeht, will ich schön und fit sein“, erklärt etwa meine Nachbarin. Die Gute hat vor, als große Krisengewi­nnerin aus der Sache hervorzuge­hen: „Glaube mir, die Leute sind so was von fällig. Sobald großflächi­g durchgeimp­ft wurde, kann man ganz groß abkassiere­n.“

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