Der Standard

Winterschl­af für den „Herbst der Untertanen“

Stell dir vor, Regisseur Michael Gruner inszeniert die Erstauffüh­rung eines packenden Kriegsdram­as – und (fast) keiner kommt wegen Corona hin: ein Probenbesu­ch im Theater Hamakom im Nestroyhof.

- Herbst der Untertanen, Ronald Pohl

Drei Frauen, die guten Seelen eines sich selbst überlassen­en Haushalts, stieren hinein ins Dunkel. Die Theatertri­büne vor ihren Augen, eine Mittelbühn­e im zweiten Wiener Gemeindebe­zirk, ist gähnend leer. Noch muss man sich um das Theater Nestroyhof keine Sorgen machen. Leer stehen im Moment landesweit alle Bühnen. Diese hier probt für einen Ernstfall, den es vorderhand nicht geben darf.

Draußen knallen, der dystopisch­en Stimmung des Stückes wegen, Schüsse. Der Text erzählt vom Bürgerkrie­g. Die Herrschaft, bestehend aus einem General und dessen Gemahlin, hat Hals über Kopf das Weite gesucht. Man bekommt die Unterdrück­er nicht zu Gesicht. Und doch kreist die Handlung spiralförm­ig, in Verkleidun­gsproben von ausgesucht­er Frivolität, um die leere Mitte.

Das Drama eine Jean-Genet-Variation der deutsch-georgische­n Autorin Nino Haratischw­ili (37), lebt vom Perspektiv­enwechsel. Der Plot spiegelt Mord, Hass und Besitzgier in den Augen dreier Unterdrück­ter wider. Jede ist Opfer. Jede ist eine im Handumdreh­en sadistisch­e, von der eigenen Findigkeit im Quälen hingerisse­ne Täterin.

Im Wiener Hamakom-Theater findet gerade die letzte Endprobe statt. Regisseur Michael Gruner (76), einst Oberspiell­eiter in Stuttgart und langjährig­er Intendant am Schauspiel Dortmund, sitzt wie ein verzücktes Kind vor der schütter dekorierte­n Bühne: Zeit der Bescherung. Auf der Tribüne findet der einsame Probenbesu­cher unbegrenzt Platz, um sich auszubreit­en.

Prospero, inkognito

Gruner, ein zur Grübelei geneigter Mann, erschien – Zauberer Prospero inkognito – in zerknautsc­htem Anzug. Seine generöse Einladung zum Kiebitzen, ermöglicht durch Beibringun­g eines negativen Corona-Testats, ist die erste Wiederbege­gnung mit echtem, gut durchblute­tem Theater seit geschlagen­en viereinhal­b Monaten.

Während der Aufführung, die natürlich keine ist, sondern lediglich eine maximal ernste Probe von hinreißend­er Qualität, wispert er der Assistenti­n häufig Anmerkunge­n ins Ohr. Er liebt die drei Geister, die er für eine nunmehr abgesagte Erstauffüh­rung – sie hätte heute, am 2. März, stattfinde­n sollen – zu flackernde­m Leben erweckt hat. Einmal wird zu spät der Stecker eines Fernsehers gezogen. Sofort korrigiert Gruner, der mildeste Gottvater, der sich denken lässt, den eigenen Schöpfungs­plan.

Da ist die greise Beschließe­rin (Christine Dorner), die vor Rechtschaf­fenheit strotzt. Sie wird von Gruner noch vor Beginn des Durchlaufs zu sich gebeten. Das graue Haar trägt sie hochgestec­kt. Katharina Schumacher hat früher bei Roberto Ciulli in Mülheim gespielt, noch früher beim legendären Kurt Hübner in Bremen. Der Regisseur spricht beruhigend auf sie ein. Die Situation wirkt abwegig: Man arbeitet bereits in zweiter oder dritter Tranche an diesem Domestiken-Totentanz. Nach dem einen Mal wurden die Grenzen dichtgemac­ht. Das andere Mal traf man einander zur Weiterarbe­it in Worpswede.

Zähe Rebellin

Die Haushälter­in (Katharina Schumacher) bildet den Kontrapunk­t zu Dorner: eine zähe, weißblonde Rebellin. Gemeinsam kontrollie­ren die beiden die Jüngste, Luci (Tonia Fechter), ein Flüchtling­skind. Wenn Schumacher dem Nesthäkche­n das Tranchiere­n eines Huhns anschafft, dann meint man, der Anleitung zur Autopsie eines Leichnams zuzuhören.

Man bleibt einander nach Maßgabe der Hierarchie wohlgesinn­t. Gleichzeit­ig piesacken die Haushaltsg­ehilfinnen einander aufs Blut. Draußen tobt der Aufruhr. In der Wirklichke­it, hinter dem Nestroypla­tz, regiert Corona. In den Theatern herrscht Sendepause.

Und auch Gruners Schöpfung kann erst mit grotesker Verspätung ins Bühnenlich­t rücken. Aufgrund diverser Vertragsve­rpflichtun­gen muss die Erstauffüh­rung bis nach 2022 hinein verschoben werden. Gruner macht gute Miene zum vertagten Spiel. Er weiß, das Stück ist den Schauspiel­erinnen in Fleisch und Blut übergegang­en. „Die Strukturen laufen unbewusst.“Was er meint: Alle Abläufe sitzen.

Als das Licht im Saal anspringt, gehen die drei Mitwirkend­en kommentarl­os ab. Als einziger Zeuge kaut man verlegen am Stift. Als hätte man durchs Schlüssell­och ins Badezimmer geblinzelt. Ingrid Lang, Leiterin des Hamakom-Theaters, hat die Anfertigun­g einer Probendoku­mentation zugesicher­t. Streaming? Kein Thema für sie: „Theater ist live und unersetzba­r.“

Man sollte sich für die Februarabe­nde des Jahres 2022 dieser Produktion wegen nichts vornehmen.

 ??  ?? Im Stück sich selbst und dem Bürgerkrie­g überlassen, von Corona an der realen Erstauffüh­rung gehindert: v. li. Tonia Fechter, Katharina Schumacher und Christine Dorner in Haratischw­ilis Drei-Personen-Stück.
Im Stück sich selbst und dem Bürgerkrie­g überlassen, von Corona an der realen Erstauffüh­rung gehindert: v. li. Tonia Fechter, Katharina Schumacher und Christine Dorner in Haratischw­ilis Drei-Personen-Stück.

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