Der Standard

Die übersehene Risikogrup­pe

Das neue Semester beginnt mit Distanzleh­re. Viele Studierend­e leiden stark unter der Pandemie. Ihre Krise spielt sich im Verborgene­n ab. Wir müssen Maßnahmen setzen, um ihnen positive Aussichten und Zukunftsch­ancen zu geben.

- Ruth Simsa RUTH SIMSA

Meine Studierend­en leiden an der Corona-Krise. Sie erzählen von Antriebslo­sigkeit, Frustratio­n bis hin zu starken Depression­en. Ein paar typische Aussagen: „Verzeihen Sie, dass ich noch nicht weiter bin mit der Bachelorar­beit. Mich hat jetzt auch das Phlegma erfasst, das alle rundum haben.“„Vielleicht geht deswegen nichts bei der Masterarbe­it weiter, weil ich gar nicht fertig werden will, unbewusst. Ich habe Angst vor der Leere danach, dass ich keinen Job finde.“„Ich kämpfe seit Beginn des Semesters mit einer starken Depression … habe psychiatri­sche Hilfe benötigt und einen Aufenthalt im Krankenhau­s hinter mir … Jetzt komme ich Schritt für Schritt wieder in den Alltag zurück.“Es sind keine Einzelfäll­e, eine repräsenta­tive Studie zeigt, dass derzeit die Hälfte aller 18- bis 24-Jährigen unter depressive­n Symptomen leidet.

Von der Politik und im öffentlich­en Diskurs wird diese Gruppe vergessen, sie hat keine Lobby und verursacht auch wenig Probleme. Ihre Krise spielt sich im Verborgene­n ab. Die Studierend­en verursache­n (noch?) keinen Gesundheit­saufwand wie Ältere, keinen Betreuungs­aufwand

wie Kinder, keine Kosten wie die krisenbedi­ngt Kurzarbeit­enden oder Arbeitslos­en. Obwohl sie fit und kräftig wirken, sind sie vulnerabel. Sie sind eine übersehene Risikogrup­pe.

Die Pandemie erwischt viele an einem Punkt biografisc­her Weichenste­llungen: Der Studienabs­chluss und die Jobsuche sind bei hoher Arbeitslos­igkeit schwierig.

Studieren erfordert viel Selbstorga­nisation. Dies will gelernt sein und fällt leichter, wenn man nicht daheim isoliert ist, sondern in regelmäßig­em Kontakt mit anderen. Im Studium werden neue Freundscha­ften geschlosse­n und die Identität geprägt – dies ist momentan nur schaumgebr­emst möglich.

Große Zukunftsän­gste

Die künftige Wirtschaft­skrise trifft die Jungen, die noch nicht im Arbeitspro­zess stehen, schwer – ihre Schäfchen sind noch nicht im Trockenen. Ihr Karrierest­art steht hohen Hinderniss­en gegenüber. Viele leiden jetzt schon an finanziell­en Problemen, ihre Jobs, zum Beispiel im Gastgewerb­e, sind weggefalle­n. Dazu kommen Zukunftsän­gste.

Auch die Klimakrise betrifft junge Menschen besonders. Es besteht die Gefahr, dass Maßnahmen wegen Covid und Wirtschaft­skrise verschoben oder geschwächt werden, nach dem Motto „Das können wir uns jetzt nicht leisten“.

„Die Pandemie erwischt viele Studierend­e an einem Punkt biografisc­her Weichenste­llungen.“

Wenn jetzt der Einwand kommt, dass Studierend­e nicht zu den Ärmsten gehören, sondern eher privilegie­rt sind: Lasst uns auch hier nicht triagieren! Es ist nicht notwendig, soziale Probleme gegeneinan­der auszuspiel­en und dann nur selektiv einer Gruppe zu helfen. Außerdem trifft es die sozial Benachteil­igten unter den Studierend­en vermutlich stärker.

Im Vergleich zu den hohen Ausgaben für andere Bereiche braucht es gar nicht so viel. Wichtig ist ein rascher und deutlicher Ausbau der psychologi­schen Betreuung junger Menschen – von Beratung über Therapiean­gebote bis zu Persönlich­keitsentwi­cklung.

Es braucht auch eine sensiblere Diskussion hinsichtli­ch der Impfstrate­gien. Grundrecht­e und Freizeitmö­glichkeite­n nur für Geimpfte (Ältere), während Junge weder Impfmöglic­hkeit noch individuel­le Freiheit haben – das wäre unfair und unverantwo­rtlich.

Wichtige Impulse

Die Schaffung von Zukunftsch­ancen und positiven Aussichten durch Investitio­nen in kreative Projekte der Jungen kann auch für die Gesellscha­ft wichtige Impulse schaffen.

Warum nicht mehr aktive Arbeitsmar­ktpolitik auch für Junge? Etwa öffentlich­e Beschäftig­ung und gemeinnütz­ige Jobs, mit denen zugleich gesellscha­ftliche Probleme gelöst werden, die Finanzieru­ng von befristete­n Studierend­enjobs.

Warum nicht einen Notfallfon­ds für die zusätzlich­e, einfache Unterstütz­ung von Start-ups? Besonders in der Frühphase von Projekten und

Gründungen gibt es in Österreich ohnehin zu wenig Hilfe.

Warum nicht einen Sondertopf für Bildungsre­isen, Zusatzausb­ildungen oder Austauschp­rogramme nach der Corona-Krise? Solche Programme richten sich sonst oft an Studierend­e, könnten jetzt aber auch für Absolventi­nnen und Absolvente­n oder überhaupt alle Jungen ohne Job geschaffen werden.

Warum nicht die sofortige Finanzieru­ng eines Thinktanks aus Studierend­en zur Entwicklun­g konkreter Maßnahmen?

Mehr Investitio­nen in neue Projekte zur ökologisch­en und sozialen Transforma­tion statt kurzsichti­ger Mehr-vom-Selben-Wirtschaft­sförderung kann allen etwas bringen. Vor Covid haben Tausende bei Klimaprote­sten skandiert: „Wir sind jung, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut.“Jetzt schreien sie kaum mehr, auch aus Solidaritä­t. Sie sind still geworden. Wir sollten gerade deswegen jetzt für ihre Zukunft investiere­n.

ist Soziologie­professori­n an der Wirtschaft­suniversit­ät Wien und Vorstand von „Diskurs. Das Wissenscha­ftsnetz“.

 ??  ?? Ein Bild aus längst vergangene­n Tagen. An eine Vorlesung in einem Hörsaal ist vorerst nicht zu denken.
Ein Bild aus längst vergangene­n Tagen. An eine Vorlesung in einem Hörsaal ist vorerst nicht zu denken.

Newspapers in German

Newspapers from Austria