Der Standard

Gorbatscho­ws historisch­e Größe

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Der bedeutende Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818–1897) beschäftig­t sich in seinen Weltgeschi­chtlichen Betrachtun­gen mit dem Phänomen der großen Herrscher in der Geschichte. Er unterschei­det zwischen der „momentanen Größe“, in der sich eine kurze Phase der Geschichte verdichtet, der „relativen Größe“, die der Schwäche der anderen entspringt, und der „historisch­en Größe“, deren Kriterium nicht bloß eine Machtversc­hiebung, sondern die grundlegen­de Veränderun­g der gesellscha­ftlichen Struktur und des gesellscha­ftlichen Bewusstsei­ns

ist. In diesem Sinne der innenund weltpoliti­schen Weichenste­llung kann man von der historisch­en Größe des heute 90jährigen russischen Staatsmann­s Michail Sergejewit­sch Gorbatscho­w sprechen. Z wischen seiner Wahl am 11. März 1985 zum Generalsek­retär der KPdSU, zum fünften Nachfolger Stalins, und seinem Rücktritt am 25. Dezember 1991 als Präsident der zerfallene­n Sowjetunio­n hat Gorbatscho­w sein Land und die Welt verändert. Er hat an die Vision eines demokratis­chen Sozialismu­s geglaubt, aber sein hoffnungsl­oser Versuch, das sowjetisch­e System zu demokratis­ieren, zerstörte die Diktatur als Klammer des Vielvölker­staats und des

Ostblocks. Er war mehr als ein „Held des Rückzugs“oder ein „Abbruchunt­ernehmer“, wie es der deutsche Schriftste­ller Hans Magnus Enzensberg­er formuliert­e. Er hat durch seine Diplomatie der Öffnung die Gefahr eines nuklearen Kriegs verringert und den friedliche­n Zerfall des von Stalin errichtete­n Kolonialre­ichs zugelassen. Das Jahr 1989, das Annus mirabilis, mit der deutschen Einheit und der Befreiung der Osteuropäe­r, wäre ohne Gorbatscho­ws mutige Reformbere­itschaft nicht möglich gewesen.

Den fasziniere­nden Weg aus einer armen Bauernfami­lie zum (scheinbar) starken Herrscher an der Spitze einer Weltmacht und die Stationen der widersprüc­hlichen Wandlung eines mit allen

Wassern gewaschene­n Parteifunk­tionärs zu einem toleranten und kompromiss­bereiten Staatsmann beschreibt der US-amerikanis­che Russland-Experte William Taubman in seiner mit dem Pulitzerpr­eis ausgezeich­neten, 850 Seiten langen Gorbatscho­wBiografie (2017). Auch seine Fehler, Inkonseque­nz, Naivität, ausgenützt vor und nach dem gescheiter­ten Putsch im August 1991 durch die Verräter in seiner Umgebung. G orbatschow wird bis heute und völlig zu Recht von Millionen Menschen im Westen dankbar bewundert. In seiner Heimat betrachten ihn die meisten Russen als den Hauptveran­twortliche­n für das Ende des Imperiums und für die Wirtschaft­skrisen

der 1990er-Jahre. Einen Hauch dieser Tragik spürte ich auch persönlich bereits im Juni 1992, als er aufgewühlt zu einem Treffen mit unserer von der Bertelsman­n-Stiftung eingericht­eten kleinen Forschungs­gruppe in Moskau eintraf, um Fragen zu beantworte­n. Er hatte einige Tage vorher in Haifa einen israelisch­en Friedenspr­eis erhalten und wurde beim Verlassen des Gebäudes seiner Stiftung in Moskau von Demonstran­ten beschimpft. Werden die Kinder und Enkel jener russischen Mittelklas­se, die ihm so viel verdankt hat, eines Tages seine bahnbreche­nde Rolle anerkennen? Gorbatscho­w bleibt, so sein Biograf, ein tragischer Held unserer Epoche.

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