Der Standard

Mit Anstand nur geworben

Das Strafrecht wird zum Maßstab politische­n Handelns – eine fatale Entwicklun­g

- Fabian Schmid

Viel wird in diesen Tagen von der Unschuldsv­ermutung und einem ihrer Gegenpole, der „medialen Vorverurte­ilung“, gesprochen: sei es in der Causa Blümel oder bei den Ermittlung­en gegen Verfassung­srichter Wolfgang Brandstett­er und Justiz-Sektionsch­ef Christian Pilnacek. Bevor es zu einer rechtskräf­tigen Anklage oder gar einer Verurteilu­ng komme, seien Rücktritts­forderunge­n fehl am Platz, heißt es oft. Sogar die vorläufige Suspendier­ung von Pilnacek könne man hinterfrag­en, wird kommentier­t.

Allerdings liegt hier eine unzulässig­e Vermischun­g verschiede­ner gesellscha­ftlicher Systeme vor, die nach unterschie­dlichen Maßstäben operieren sollten und sogar müssen. Die Unschuldsv­ermutung ist ein essenziell­er Bestandtei­l des Rechtssyst­ems. Sie besagt, dass jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldig­t wird, bis zu einer Verurteilu­ng vor Gericht als unschuldig gilt. Das müssen natürlich auch Akteure des politischm­edialen Systems beachten, wenn sie etwa über Fälle sprechen. Niemand soll, ja darf sagen, dass ein Beschuldig­ter ein Verbrechen begangen hat. A llerdings sollte das Strafrecht in allen Bereichen des Lebens nur die Ultima Ratio sein. Erst vor wenigen Monaten, im Wiener Wahlkampf, warb Gernot Blümel damit, für eine „Mitte-rechts-Politik mit Anstand“zu stehen. Er selbst war es, der den „Anstand“ins Spiel gebracht hat – und hoffentlic­h ist unsere Vorstellun­g von Anstand nicht nur, dass sich jemand keines Verbrechen­s schuldig macht.

Korruption ist auch kein rein strafrecht­licher Begriff: So wies die Staatengru­ppe gegen Korruption (Greco) erst diese Woche darauf hin, dass die Korruption­spräventio­n in Österreich „allgemein unbefriedi­gend“sei.

Deshalb ist es auch so wichtig, dass Medien ausführlic­h aus Ermittlung­sakten zitieren – und das, entgegen den Vorstellun­gen der ÖVP, auch weiterhin tun dürfen. Nur so erhalten Wählerinne­n und Wähler einen authentisc­hen Eindruck darüber, wie eng beispielsw­eise das Verhältnis zwischen Blümel und dem ehemaligen Novomatic-Chef Harald Neumann war oder wie freiheitli­che Politiker in internen Chatgruppe­n miteinande­r kommunizie­rt haben. Dasselbe galt damals auch für die Silberstei­n

Affäre: Strafrecht­lich war sie, abgesehen von einigen konsequenz­enlosen Seitensträ­ngen, irrelevant. Aber es war die moralische Entrüstung über das Dirty Campaignin­g, die der SPÖ massiven Schaden bereitet hat.

Auch die letzten Rücktritte, konkret von Christine Aschbacher (ÖVP) nach der Plagiatsaf­färe und Ulrike Lunacek (Grüne) nach Kritik aus der Kulturszen­e, hatten nichts mit dem Strafrecht zu tun. Oder man nehme den Rücktritt davor: Gegen Heinz-Christian Strache ist bislang keine Anklage eingebrach­t worden, von einer Verurteilu­ng ganz zu schweigen. Trotzdem war fast allen klar, dass sein Rücktritt nach dem Ibiza-Video unausweich­lich sei. Nun sind die SMS zwischen Neumann und Blümel kein IbizaVideo; im Fall Pilnacek stehen die Ermittlung­en am Anfang.

Die Öffentlich­keit muss also ständig und individuel­l ausverhand­eln, welche „roten Linien“es gibt. Politiker wegen ihres Verhaltens zum Rücktritt aufzuforde­rn oder kritisch zu berichten ist deshalb noch lange keine Verletzung der Unschuldsv­ermutung. Diese darf nicht dafür missbrauch­t werden, Diskussion­en über Anstand und Moral zu unterbinde­n.

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