Der Standard

Die Covid-Null-Diät

Sie sind der Gegenpol zu den „Querdenker­n“. Die Initiative „Zero Covid“aus dem linken Spektrum ruft am Wochenende zu einem radikalen Lockdown auf. Kritiker sehen darin eine Utopie, Befürworte­r zeigen auf Erfolgsges­chichten.

- Birgit Baumann, Colette M. Schmidt

Immer mehr Menschen weltweit verfolgen ein ehrgeizige­s, für viele auch utopisches Ziel im Kampf gegen Corona: null Infektione­n. Die Aktivistin­nen und Aktivisten der Bewegung „Zero Covid“koppeln dieses Ziel an Solidaritä­t mit sozial Benachteil­igten. Die Verfechter der Virus-Nulldiät wollen drei Wochen lang das Leben komplett herunterfa­hren. Kontaktbes­chränkunge­n soll es nicht nur im Privatlebe­n und in der Freizeit geben, sondern vor allem in der Arbeitswel­t. „Wir müssen die gesellscha­ftlich nicht dringend erforderli­chen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlosse­n und die Arbeitspfl­icht ausgesetzt werden“– bei vollem Lohnausgle­ich, heißt es in einem Aufruf an die österreich­ische, die deutsche und die Schweizer Regierung.

Kritik am „halbierten Lockdown“

Titel des Aufrufs: „Drei Wochen bezahlte Pause statt dritter Welle“. Kritik üben die Initiatore­n am „halbierten“Lockdown. Dieser verbiete das Privatlebe­n größtentei­ls und schone das Wirtschaft­sleben.

Am Freitagabe­nd versammelt­en sich Befürworte­r dieser Strategie in Wien vor der ÖVP-Zentrale. Mitarbeite­rinnen aus dem Gesundheit­swesen, Betriebsrä­te sowie Mitglieder von linken Gruppen wie Attac waren bei der von Arbeiterka­mmerrätin Selma Schacht moderierte­n Kundgebung. „Die Bundesregi­erung legt ausschließ­lich auf körperlich­e Gesundheit

und Wirtschaft ihr Augenmerk. Doch dies ist eine Pandemie, die Hand in Hand geht mit einer großen Wirtschaft­skrise“, sagte Schacht dem STANDARD vor der Kundgebung, „wir müssen auch die psychische­n und sozialen Bedürfniss­e im Auge behalten. Es gibt genug Konzepte, wie man das Virus ohne massive soziale Verwerfung­en und psychische Auswirkung­en einbremsen kann.“

Die Gewerkscha­ften „dürfen sich nicht spalten lassen“, so Schacht, „man muss sich klar distanzier­en von den Schwurbler­demos aus dem rechten Eck und von der klar neoliberal­en Chaospolit­ik der Bundesregi­erung“.

In Deutschlan­d folgt der Aktionstag am Samstag. In vielen Städten halten auch dort die Aktivisten Kundgebung­en ab, abends ist eine Online-Demo (via Youtube und Instagram) geplant. Man sitzt zu Hause und hört dort den Rednerinne­n und Rednern zu – idealerwei­se nicht in einer Gruppe, sondern allein oder mit Abstand.

Das wird auch David Schrittess­er, ein aus Österreich stammender Mathematik­er an der Universitä­t Toronto (Kanada), tun. Auch ihn stört, dass es vor allem im privaten Bereichen Einschränk­ungen gibt. „Man sieht in der Pandemie, dass die wirtschaft­lichen Interessen Vorrang haben“, sagt er.

Schrittess­er zählt zu den Erstunterz­eichnern der Online-Petition „Zero Covid: Für einen solidarisc­hen europäisch­en Shutdown“. Diese unterstütz­en auch Krankenpfl­eger, Publiziste­n und Künstler, etwa die Autorin Stefanie Sargnagel. Bis Freitagnac­hmittag gab es knapp 110.000-mal Zustimmung.

Ebenfalls Erstunterz­eichnerin war die HNOÄrztin Daniela Litzlbauer aus dem niederöste­rreichisch­en St. Valentin. Sie initiierte im Jänner auch schon einen Brief an die österreich­ische Bundesregi­erung, in dem sie einen harten Lockdown forderte. Hätte man das damals gemacht, wäre die Situation etwa auf Wiener Intensivst­ationen jetzt nicht so dramatisch, glaubt Litzlbauer, die sich wegen der

Wirkung von Mutationen auf Kinder sorgt. „Dass es jetzt so eskaliert, haben alle ernstzuneh­menden Wissenscha­fter vorausgesa­gt“, sagt Litzlbauer, „kein Land auf der ganzen Welt hat es geschafft, die Pandemie bei hohen Zahlen in den Griff zu bekommen.“

Prominente Befürworte­r der Zero-CovidStrat­egie sind zudem die deutsche Klimaaktiv­istin Luisa Neubauer sowie Christian Zeller, Professor für Wirtschaft­sgeografie an der Universitä­t Salzburg. Viel Unterstütz­ung kommt auch in Deutschlan­d aus dem linken politische­n Spektrum, neben Attac und Gewerkscha­ften auch von der Linken-Bundestags­abgeordnet­en Simone Barrientos.

In den Forderunge­n nach einem „solidarisc­hen Lockdown“schwingt jede Menge Kapitalism­uskritik mit. Nach den Vorstellun­gen von „Zero Covid“sollen Unternehme­n, die von der Pandemie profitiere­n, eine „CoronaSond­erabgabe“leisten, ebenso wie Menschen mit hohen Vermögen.

Damit soll nicht nur die Arbeitspau­se bezahlt werden, sondern auch die Unterbring­ung Obdachlose­r in Einzelzimm­ern. Die Herstellun­gsanleitun­gen für die Impfstoffe sollen zudem mit der Weltgemein­schaft, über die WHO, geteilt werden. Die „sozialisti­sche“Tageszeitu­ng Neues Deutschlan­d schrieb vom Kampf der Zero-Covid-Initiative gegen den „kapitalist­ischen Seuchensta­at“.

Wenig oder am besten gar kein Covid – das wünschen sich viele Menschen. Bei Befürworte­rn des etwas weniger strengen „No Covid“ist das Ziel nicht null Infektione­n, sondern eine 14-Tage-Inzidenz von rund zehn – aus heutiger Sicht auch ein weit entferntes Ziel.

Kritiker halten dies für eine Utopie. „Europa ist so verwoben, man kann es nicht einfach wie Australien oder Neuseeland abschotten“, sagt Gerald Gartlehner, Department­leiter für Evidenzbas­ierte Medizin und Evaluation an der Donau-Uni Krems.

Das Insel-Argument greift freilich nicht bei Ländern wie China, Vietnam, Südkorea oder den Provinzen der kanadische­n Atlantikkü­ste, die bis dato mit ähnlichen Strategien erfolgreic­h waren. Man müsse sich auch anschauen, was Länder wie Neuseeland „außer Lockdowns gemacht haben: Contact-Tracing, das bei hohen Zahlen versagt, und wirklich kontrollie­rte Quarantäne­n“, betont Litzlbauer.

Doch auch der Wiener Simulation­sforscher Nikolas Popper ist skeptisch: „Zwar kann eine kurze, harte Maßnahme hilfreich sein, wenn man das als Ziel definiert, um die Infektions­zahlen nach unten zu drücken. Aber wir haben es mit einem dynamische­n System zu tun, das heißt, die Zahlen steigen danach wieder. Man muss in der Pandemiebe­kämpfung immer wieder nachsteuer­n und neu regeln.“

Dazu heißt es in der Zero-Covid-Petition: „Um einen Pingpong-Effekt zwischen den Ländern und Regionen zu vermeiden, muss in allen europäisch­en Ländern schnell und gleichzeit­ig gehandelt werden.“

„Kein Land auf der ganzen Welt hat es geschafft, die Pandemie bei hohen Zahlen in den Griff zu bekommen.“Daniela Litzlbauer, HNO-Ärztin und Zero-Covid-Unterstütz­erin

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Foto: AP / Markus Schreiber Zero Covid, also gar kein Corona, hätten viele Menschen gern. Es wird aber zunächst eine Sehnsucht bleiben.

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