Der Standard

Literaturn­obelpreist­räger Kazuo Ishiguro erzählt von einem Mädchen und dessen künstliche­r Intelligen­z.

Literaturn­obelpreist­räger Kazuo Ishiguro erzählt in „Klara und die Sonne“von einem Mädchen und seiner KI. Das heiße Thema wird aber nur unbefriedi­gend durchgearb­eitet, die Perspektiv­e ist zu naiv.

- Michael Wurmitzer

Das Kürzel KI kennt man mittlerwei­le: künstliche Intelligen­z. Was aber ist eine „KF“? Im neuen Roman von Nobelpreis­träger Kazuo Ishiguro steht es für eine „künstliche Freundin“. Klara ist eine solche, im Schaufenst­er eines Spielwaren­ladens lässt sie sich die Sonne ins Gesicht scheinen und wartet auf ein geeignetes „Zuhause“. Denn KFs sind dazu gemacht, um Kindern und Jugendlich­en Gefährten zu sein. Das ist in dieser Welt normal, Kinder ohne KF gelten als einsam. Man darf sich diese KFs nicht als Blechkiste­n vorstellen, sondern mit Haut, flotter Frisur und schicken Kleidern. Jede KF ist individuel­l, Klara zeichnet besondere Empathie aus.

Blicke in den „Abgrund“

Beschäftig­te der japanisch-britische Bestseller­autor Kazuo Ishiguro (66) sich in frühen Romanen wie

Was vom Tage übrig blieb (1989) vornehmlic­h mit Themen rund um den Zweiten Weltkrieg, zog es ihn in den 2000ern zu Science-Fiction und Fantasy. In Alles, was wir geben mussten befasste er sich etwa mit Klonen als Organspend­ern. Beide Bücher wurden verfilmt. Der begrabene Riese behandelte zuletzt friedliche­s Zusammenle­ben und Feindschaf­t angesichts von Erinnern und Vergessen in der Zeit nach der römischen Besatzung Großbritan­niens und wurde bevölkert von fantastisc­hen Wesen wie Kobolden und Drachen. Seine Bücher würden „den Abgrund unserer vermeintli­chen Verbundenh­eit mit der Welt“offenlegen, lobte die Schwedisch­e Akademie, als sie dem Autor 2017 für viele überrasche­nd den Literaturn­obelpreis zuerkannte. Dies lässt sich auch über

Klara und die Sonne feststelle­n, Ishiguros ersten Roman nach dem Preis.

Der Abgrund tut sich darin erst fast lähmend langsam immer weiter auf. Es gibt ja bereits smarte Spielzeuge für Kinder: Chatbots, Stofftiere mit Sensoren, Avatare als Freunde fürs Smartphone. Ishiguro denkt das weiter und gibt den Rechenoper­ationen so etwas wie Bewusstsei­n.

Das beginnt damit, dass Klara permanent die Welt um sich herum analysiert, menschlich­es Verhalten und Gefühle studiert, anhand von Kleidung auf sozialen Status schließt. Einmal sieht sie aber Taxifahrer raufen und stellt sich vor, so zornig auf eine andere KF zu sein, dass sie diese beschädige­n wollte. Die Idee kommt ihr „lächerlich vor, aber ich wollte wenigstens den Keim eines solchen Gefühls in meinem Geist finden“. Nach einigen Wochen im Laden wird Klara von Josie (14) ausgewählt. Die warnt Klara gleich, dass sie oft niedergesc­hlagen ist.

Klara zieht zu Josie und ihrer Mutter in ein schönes Haus und ist fortan dabei, wenn Josie digitalen Unterricht bekommt oder an der Reihe ist, eines der regelmäßig­en „Interaktio­nsmeetings“auszuricht­en. Das sind Treffen, bei denen Jugendlich­e lernen sollen, mit anderen Menschen klarzukomm­en. Wobei mit anderen ihresgleic­hen gemeint ist, denn sozialer Aufstieg ist nur dem möglich, der eine Genomediti­erung hinter sich hat. Josies einziger Freund Rick hat das nicht.

Zwei Schreckens­visionen

Langsam kristallis­ieren sich die zwei Schreckens­visionen heraus, die Ishiguro auf 350 Seiten verwebt. Die eine ist eine Gesellscha­ft, deren Elite sich stark abgrenzt. Die Genomediti­erung als Eintrittsp­ass kann körperlich­e Schäden hervorrufe­n. Die andere ist die, dass der Mensch aus Fleisch und Blut ersetzbar wird. Nicht nur als anonyme Pflegerobo­ter, sondern jedes Individuum. In Vorbereitu­ng auf den Tod Josies lässt deren Mutter nämlich einen Roboter nach dem Ebenbild der Tochter anfertigen, in den Klara, die Josies Verhalten beobachtet hat, einmal als Software schlüpfen soll.

Hier hängen sich die ethischen Fragen an, die Ishiguro aufwirft. „Die neue Josie ist keine Imitation. Sie wird wirklich Josie sein. Eine Fortsetzun­g von Josie“, erklärt Mr. Capaldi, der den Roboter baut. „Ein

Teil von uns wehrt sich dagegen loszulasse­n. Der Teil, der nach wie vor glauben will, dass in jedem von uns etwas Ungreifbar­es ist. Etwas, das einzigarti­g ist und sich nicht übertragen lässt. Aber es gibt nichts dergleiche­n, und das wissen wir jetzt.“

Tiefer geht das Nachdenken jedoch leider nicht. Zudem fehlt Ishiguro offenbar jedes Interesse an der Technologi­e. Er erzählt aus der Perspektiv­e Klaras, und da die KF sich die Welt erst erschließe­n muss, nähert sie sich allem ahnungslos an. Dieser Blick könnte spannend, da entlarvend sein, wirkt hier aber nur unbeholfen. Handys sind für sie „Rechtecke“, das Wohnzimmer nennt sie bis zuletzt „Großraum“. Kein doppelter Boden tut sich auf. Insofern wird Klara als naive Erzählerin auf die Dauer mühsam und ärgerlich dumm, der Ton oft kindisch.

So bleibt die Geschichte hinter ihren Möglichkei­ten, hinter den Kapazitäte­n von KIs und auch hinter jenen der Leser zurück. Lassen sich Menschen abschaffen? Wie viel ist man bereit, für ein gutes Leben zu riskieren? Muss man das gesellscha­ftliche Spiel mitspielen? Solche Fragen stellen sich unterwegs, Ishiguro dringt aber nie so tief, dass es ein Gewinn wäre, das Buch zu lesen. Kazuo Ishiguro, „Klara und die Sonne“. Aus d. Englischen von Barbara Schaden. € 24,70 / 352 S. Blessing, München 2021

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Segen oder Bedrohung? Humanoide Roboter wie die von Hanson Robotics gebaute Sophia gibt es in immer größerer Zahl.

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