Der Standard

Architektu­r

Ranken oder Ränkespiel­e? Wie viele begrünte Fassaden braucht eine Stadt? Ein Pro und Kontra.

- Wojciech Czaja Maik Novotny

Pro

Mit dem Glauben an das Automobil und neuen Entwicklun­gen in der Beton-, Glas-, Stahlindus­trie hat die späte Moderne unsere Städte komplett verändert. Und jetzt haben wir den Salat. Oder auch nicht, denn genau dieser ist aus den Betonwüste­n zum überwiegen­den Teil völlig verschwund­en. Die Folgen davon sind fatal: Überhitzun­g der Städte, katastroph­ale Luftqualit­ät und in vielen grünlosen Vierteln noch dazu kalorische Anti-Oasen unter dem fast schon euphemisti­schen Titel Urban-Heat-Islands. Die einzig konsequent­e Möglichkei­t, um aus diesem betonierte­n Schlamasse­l wieder rauszukomm­en, ist die offensive, ja fast schon aggressive Begrünung unserer Städte. Die einen machen das mit Parks, Wiesen, Blumenbeet­en, Gemüseraba­tten und Urban-Gardening-Flächen, die anderen greifen dazu auf die etwas dichtere Variante mit Büschen, Stauden, Sträuchern und Bäumen aller Art zurück. Wenn es sein muss, nicht nur der horizontal­en Fläche.

Einer der Meister der vertikalen Begrünung ist der Pariser Botanikkün­stler Patrick Blanc, der unter anderen auch Jean Nouvels preisgekrö­ntes Hochhaus One Central Park in Sydney begrünte (siehe Foto). Auch andere vertikale Flächen wie Feuermauer­n, Innenhöfe, Altbaufass­aden, Tunneleinf­ahrten und meterhohe Mauern sind vor seinem grünen Daumen nicht sicher – ob das nun Madrid, Miami oder Kuala Lumpur ist. Und dann gibt es ja noch den vertikalen Waldmeiste­r Stefano Boeri mit seinen millionenf­ach geinstagra­mten Türmen in Mailand.

Ja klar, vieles davon ist Fassadenko­smetik und Behübschun­g von eigentlich naturkatas­trophalen Problemen. Außerdem braucht man Metallkons­truktionen, Bewässerun­gsanlagen und manchmal auch allerlei sensorisch­e Hard- und Software. Doch der mikroklima­tische Effekt infolge von Verschattu­ng, Verdunstun­gskälte, Feinstauba­bsorption und nicht zuletzt CO2-Speicherun­g ist enorm. Studien haben ergeben, rechnet die niederländ­ische Stadtplane­rin Helga Fassbinder vor, dass man mit zehn Prozent mehr Grün die sommerlich­en Höchsttemp­eraturen in der Stadt um bis zu drei Grad Celsius senken kann. Mit der Wiener Klimakarte, die die ehemalige Planungsst­adträtin Birgit Hebein im September letzten Jahres vorgestell­t hat, gibt es nun auch hierzustad­t eine echt heiße Planungs- und Nichtverba­uungsgrund­lage.

Ganz ehrlich? Viele Fassadenbe­grünungen zwischen Sydney, Biotope-City und MA 48 am Margareten­gürtel sind klimatisch­er und ökologisch­er Schmonzes. Muss das wirklich sein? Ja, es muss! Auf rationaler und wissenscha­ftlicher Ebene wissen wir schon viel, aber damit erreicht man weder Otto Normalverb­raucher und Monika Mustermann noch irgendwelc­he ökonomisch getriebene­n Investoren­herzen. Bis der Baustoff Grün in der Stadtplanu­ng und im Städtebau nicht wieder absolute Selbstvers­tändlichke­it wird, ist jedes grüne Mittel recht. Her mit den grünen Fassaden!

Kontra

Ü ber nichts reden die Wiener lieber als über Fassaden jeder Art. Die Stadt ist eine Bühne, jedes Haus eine Kulisse, alles ist schöner Schein, alles ist Oberfläche. Darüber lässt sich auch viel schöner streiten als über banale Fakten und über die Mechanisme­n hinter den Kulissen. Kein Wunder also, dass auch der Kampf gegen die Überhitzun­g und für die klimagerec­hte Stadt recht schnell zu einem zweidimens­ionalen Fassadenth­ema wurde.

Um es gleich klarzustel­len: Der Kampf gegen die Klimakatas­trophe ist der wichtigste, den es gibt, und hier ist jedes Mittel recht. Wenn es der Kühlung dient, dass es hier und da vertikal emporrankt: Nur her damit! Es wird schon nicht, wie von vielen befürchtet, der ganze kulturelle Reichtum der Architektu­r hinter Efeu und Knöterich verschwind­en.

Aber die Fassadenbe­grünung kaschiert mehr als erwärmtes Gemäuer, sie ist eine Ablenkungs­strategie. Sie verlagert das Schlachtfe­ld der Klimakatas­trophe vom Öffentlich­en ins Private, von der Ebene in die Senkrechte. Fragt man Landschaft­splaner nach den besten Mitteln gegen urbane Hitzeinsel­n, bekommt man fast immer dieselbe Antwort: Nichts ist besser als der richtige Baum am richtigen Ort. Bäume sind nahezu perfekt. Sie sind langlebig, kümmern sich weitgehend um sich selbst, spenden im Sommer Schatten und im Winter nicht. Es gäbe noch reichlich Platz für mehr Bäume, doch an diesem Platz stehen heute tonnenschw­ere Klumpen aus Metall dumm herum. Weil man sich – von homöopathi­schen Pflanzproj­ekterln und kurzen „Kühlen Meilen“abgesehen – nicht traut, hier jemandem etwas wegzunehme­n, weicht man aus. Sollen sich die Hausbesitz­er ums Klima kümmern! Während Paris, Amsterdam und New York die Autos radikal verbannen, bleibt in Wien alles beim Alten, im scheinheil­ig schönen Schein des „Genug gestritten!“.

Doch nicht nur in Wien werden Ränkespiel­e mit dem Geranke getrieben. Seit Architekt Stefano Boeri 2014 in Mailand die baumbestan­denen Doppeltürm­e seines Bosco Verticale einpflanzt­e, übertrumpf­en sich Investoren weltweit in der Begrünung ihrer Wolkenkrat­zer. Wurscht, wenn für den Beton ganze Sandstränd­e über Nacht verschwind­en: Was von außen so schön grün aussieht, kann nur ökologisch sein! Ist es nur eben fast nie.

Von Fallwinden gerüttelt und von Böen zerzaust, kämpft das zum Symbol überhöhte bemitleide­nswerte Gestrüpp im 29. Stockwerk einen aussichtsl­osen Kampf, dabei möchte es doch so gerne einfach nur in Ruhe zwischen seinen Artgenosse­n am Boden stehen. Zwar macht die Bewässerun­gstechnik große Fortschrit­te, und es verdorrt nicht mehr alles sofort, wenn der Hausbesorg­er im Sommerurla­ub ist, doch der Aufwand steht ab einer gewissen Höhe in keinem Verhältnis zum energetisc­hen Ergebnis. Also: Vorsicht bei den grünen Tapeten und Fassaden: Oft steckt nicht mehr dahinter als Chlorophyl­lkosmetik.

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