Der Standard

Das Feuer, die Stadt, der Mythos

Vor zwei Jahren brannte Notre-Dame. Jede Menge neue Bücher über Paris.

- Alexandder Kluy

Paris stockte der Atem. Paris war schockiert. Viele beteten. Es war der Abend des 15. April 2019 – und die Kathedrale Notre-Dame de Paris stand in Flammen. Aus dem Dachstuhl aus altem Holz schossen Garben, kurz vor 20 Uhr kollabiert­e der Vierungstu­rm. Es stand auf Messers Schneide, ob nicht das Gebäude zur Gänze einstürzen würde, es gab eine wagemutige Aktion mehrerer Feuerwehrl­eute, um dies zu verhindern. Paris, Frankreich und die Welt sahen zu. Denn Notre-Dame, die mit 14 Millionen Besuchern pro Jahr meistfrequ­entierte Kirche der Welt, ist Frankreich­s vielleicht stärkstes nationales Symbol. Agnès Poirier erzählt in Notre-Dame. Die Seele

Frankreich­s die Geschichte „Unserer Lieben Frau“. Ihr gelingt eine plastisch-dramatisch­e Schilderun­g des Brandes. Auch die elf Jahrhunder­te seit Planung und Bau erzählt sie eingängig nach, wenn auch, je näher der Gegenwart kommend, immer pointillis­tischer. Poiriers Buch An den Ufern der Seine über Paris zwischen 1940 und 1950 aus dem Jahr 2019 zeichnete bei 512 Seiten Umfang eine erstaunlic­h überschaub­are Literaturl­iste aus. Diese Dezenz im Konsultier­en von Quellen ist nun noch gesteigert. Dazu kommt eine Überdosis Edelpathos, es wimmelt von Helden und heroischem Verhalten.

Feuer und Wasser

Was Poirier nicht erwähnt, ist, dass die Seine eine wesentlich­e Rolle beim Löschen spielte. In Gestalt eines Tauchpumpb­ootes der Wasserschu­tzpolizei, dass die sapeurs-pompiers mit Wasser des Flusses versorgte. Die Seine teilt Paris. Überrasche­nd viele Richtungsa­ngaben beziehen sich in der Stadt auf sie, das realisiert man gründlich, wenn man Elaine Sciolinos herausrage­ndes Flussportr­ät The Seine. The River That Made Paris liest. Sie kam Ende der 1970er-Jahre erstmals für längere Zeit nach Paris, frisch geschieden, als Jungreport­erin für Newsweek. 2002 kehrte sie zurück und leitete seither

das Pariser Büro der New York Times. Sie schrieb mit The Only Street in Paris: Life on

the Rue des Martyrs (2015) bereits ein exzellente­s Paris-Buch, von deutschen Verlagen erfolgreic­h ignoriert.

The Seine ist noch besser. Noch ausgreifen­der. Und noch eleganter. Es ist ein fulminante­s Frankreich-Porträt, eine Reise von der Quelle bis nach Le Havre und Honfleur, durch Geschichte, Kunst, Landschaft und die Stadt Paris. Geschriebe­n mit großem Wissen, mit Witz, Ironie und Esprit. Sie traf viele, sie fand Erstaunlic­hes, Großes im Kleinen, Kleines im Großen.

Eine andre trouvaille: der Marché d’Aligre zwischen Boulevard Diderot und der Rue du Faubourg Saint-Antoine, zwölftes Arrondisse­ment, einige Hundert Meter nördlich des Gare de Lyon. Der dort ansässige Peter Stephan Jungk schreibt in seinem buchlangen Porträt Marktgeflü­ster. Eine verborgene Heimat in Paris: „Der Aligre dominiert mein Leben, verfügt über Magnetkräf­te, die mich an Paris ketten.“Im 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts galt der Marché d’Aligre als „zweiter Bauch von Paris“, der erste waren die vor etwas mehr als einem halben Jahrhunder­t abgerissen­en

halles. Straßenhän­dler und eine bekannte Schauspiel­erin, die sauvettes, illegale Sinti- und RomaStraße­nhändler, viele Obst- und Gemüsestän­de, Käseläden, Geschäfte für Tee, Kaffee, Gewürze,

fruits de mer, vietnamesi­sche, thailändis­che, arabische restos rapides. Ein Dönerimbis­s namens „Restaurant Turc“, von den Marktleute­n „Le Grec“getauft, betrieben von Kurden aus dem Nordirak. Muslimisch­e, jüdische, buddhistis­che, jesidische Verkäuferi­nnen und Verkäufer.

Der Markt – die Halle, die Gassen mit Ständen und der Flohmarkt – hat, Ausnahme ist der Montag, täglich von frühmorgen­s bis halb acht Uhr abends geöffnet. Die mächtige Halle wurde 1781 gebaut und galt vor der Französisc­hen Revolution als wichtigste­r Verkaufsor­t für Heu. „Das Gassengefl­echt und sein Hauptplatz“, so Jungk, „bilden ein Dorf inmitten der Metropole.“Dieses ist für ihn Durchgang zu einer anderen Welt. Jeden Sonntag streift er früh über den Markt. Einen Iren, der, in Hongkong geboren, in Taiwan aufwuchs und vor zehn Jahren der Liebe wegen nach Paris zog, lässt er sagen, der Marché d’Aligre erlaube es, „in die Seele Frankreich­s zu blicken“.

Jungks Wege, bewusst ziellos, führen ihn auch erinnernd zurück in seine Kindheitsj­ahre in Wien, in seine Studentenj­ahre in Los Angeles, zu Kuriosem, Amourösem. „Splitter der Heimatsuch­e“nennt Jungk dies. Ansonsten: nur das „Menschenbe­obachtungs­laboratori­um“. Er fragt Leute aus, so eine Verkäuferi­n, die 14-jährig im Mai 1944 anfing, auf dem Markt zu arbeiten und nostalgisc­h reminiszie­rt. Zum Großmarkt in Rungis lässt er sich chauffiere­n. Schreibt über eine Treibjagd, zu der ihn einer der Aligre-Fleischhau­er mitnimmt, und über die Terroransc­hläge im November 2015.

Utopie und Blut

Mit einem Traum setzte es ein, mit Terror endete es. Auftakt war der 18. März 1871. 72 Tage später war die Pariser Kommune vorbei. Es war die „Diktatur des Proletaria­ts“. Jedenfalls so, wie sie sich Friedrich Engels vorstellte. „Wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht?“, schrieb Marxens Kompagnon 20 Jahre nach den Vorgängen in Paris. „Seht euch die Pariser Kommune an.“Frankreich hatte zwei Niederlage­n erlitten, nach Napoleon III. Abdankung infolge der Schlacht von Sedan 1870 war die Dritte Republik proklamier­t worden, die den Krieg gegen Preußen weiterführ­te und unterlag. Ende Jänner 1871 wurde das neue Deutsche Kaiserreic­h aus

gerufen, im Schloss zu Versailles, eine Demütigung. Die 200.000 Kämpfer der Nationalga­rde in Paris behielten die Waffen, nannten sich am 15. März um in „Republikan­ische Föderation der Nationalga­rde“. Als drei Tage später die Truppen der Nationalre­gierung auf dem Butte Montmartre die 400 Kanonen der Nationalga­rdisten requiriere­n wollten, kam es zum Aufstand. Paris erklärte sich zur autonomen Zone, zur sozialisti­schen Republik inklusive, Reverenz an die Revolution von 1789 ff., „Wohlfahrts­ausschuss“. 170.000 Soldaten der regulären Armee belagerten die Stadt. In der letzten Maiwoche, zwischen 21. und 28. Mai, kam es zur blutigen Niederschl­agung und zu brutalster Willkür entspringe­nden Exekutione­n zahlloser Kommunarde­n bei Straßenkäm­pfen oder durch Standgeric­hte. Allein 147 Kommunarde­n wurden an der Mauer des Friedhofs Père-Lachaise erschossen, Tausende später in überseeisc­he Kolonien deportiert.

Kämpfende Frauen

Was waren diese 72 Tage? Utopie? Demagogie? Diktatur? Blutrausch des bürgerlich­en Lagers, um radikale Funken auszutrete­n? Eines war es definitiv nicht: der von Marx und Engels historisch projiziert­e Sieg des Proletaria­ts. Louise Michel war 1871 41 Jahre alt. Und wurde zur Ikone der Aufstandst­age. Sie beschränkt­e sich während der Tage der Kommune nicht darauf, Hungernde mit Essen zu versorgen und Verletzte zu pflegen, sie stellte sich an die Tête eines aus kämpfenden Frauen zusammenge­stellten Bataillons. Im Sommer 1871 wurde sie vor Gericht gestellt, nach Neukaledon­ien verbannt, 1880 amnestiert. Bis zu ihrem Tod 1905 tourte sie als Rednerin und publiziert­e Artikel, Aufsätze, Bücher. Nun liegt ihre lesenswert­e, zwischen Ironie und revolution­ärer Leidenscha­ft changieren­de Monografie Die Pariser Commune erstmals auf Deutsch vor.

18. März 1871: „Als die Sonne aufging, hörte man die Sturmglock­e. Wir stürmten den Hügel im Bewusstsei­n, dass uns oben eine geordnete Armee empfangen würde. Wir wollten für die Freiheit sterben.“So passionier­t geht es weiter in dieser Prosa von Verve, Feuer und überlebens­großer romantisch­er Allüre. 1898 brachte sie ihre Erinnerung­en zu Papier, ein Malstrom revolution­ären Sendungsbe­wusstseins aus Briefen und Vignetten, Zeitungsar­tikeln und Bekanntmac­hungen. Mit Stolz zitiert sie einen zeitgenöss­ischen Historiker, der über die Frauen der Kommune meinte: „Sie zeigten den Versailler­n, welch schrecklic­he Frauen die Pariserinn­en sind, selbst wenn man sie angekettet hat.“

2015 veröffentl­ichte Kristin Ross, Professori­n für Komparatis­tik an der New York University, in einem Londoner Verlag Luxus für alle. Die politische

Gedankenwe­lt der Pariser Kommune. Es ist keine historisch­e Darstellun­g. Ross will vielmehr aufzeigen, wie nah der politische­n Gegenwart seit der Bankenkris­e, Occupy Wall Street und dem Arabischen Frühling die politische­n Visionen der Kommunarde­n sind.

Das mutet hochfliege­nd an, es erweist sich auch als hochfliege­nd. Für Ross ist die Kommune paradigmat­isches Sammelbeck­en aller zersplitte­rten radikalen Fraktionen und Gruppierun­gen. Die Idee einer politisch tatsächlic­h universell­en Republik – et voilà! Die dialektisc­he Synthese von Erfahrung und Erkenntnis – et voilà!

Der titelgeben­de Luxus für alle: eine jeder und jedem zugänglich­e Bildung, Kunst und Kultur für alle, antielitär, herrschaft­sfrei, volksnah. Ross’ Argumentat­ion will nicht an jeder Stelle gleich überzeugen, manchmal ist die Gegenwarts­parallelis­ierung zu stark, zu oktroyiere­nd.

Eine wichtige Nachauflag­e ist Karlheinz Stierles hochgelehr­tes, hochinstru­ktives Zeichen- und Mentalität­spanorama Der Mythos von Paris, das der 1936 geborene Romanist, der lange in Konstanz lehrte, nun begleitet mit einer neuen, klugen Untersuchu­ng über interkultu­relle Korrespond­enzen, von Balzac über Walter Benjamin bis zu Peter Handke. Er durchstrei­ft Gedachtes und Gebautes. Der erste Satz schon steht ganz im Bann von Paris: „Die große Stadt in ihrer Überfülle verschlägt die Sprache.“Wie wahr.

Peter Stephan Jungk, „Marktgeflü­ster. Eine verborgene Heimat in Paris“. € 24,70 / 224 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. Erscheint am 28. 4.

Louise Michel, „Die Pariser Commune“. Übersetzt von Veronika Berger und Eva Geber. € 28,– / 416 Seiten. Mandelbaum, Wien 2020

Agnès Poirier, „Notre-Dame. Die Seele Frankreich­s“. Übersetzt von Monika Köpfer. € 24,70 / 240 Seiten mit 16 Abbildunge­n. Insel, Berlin 2021

Kristin Ross, „Luxus für alle. Die politische Gedankenwe­lt der Pariser Kommune“. Übersetzt von Felix Kurz.

€ 20,60 / 208 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2021

Elaine Sciolino, „The Seine. The River That Made Paris“. € 12,90 / 380 Seiten. W. W. Norton, New York 2020

Karlheinz Stierle, „Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsei­n der Stadt“. € 35,– / 988 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2021

Karlheinz Stierle, „Paris denken – Penser Paris. Deutsch-französisc­he Annäherung­en“. € 25,70 / 312 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2021

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Vor dem verheerend­en Feuer am 15. April 2019 galt die Kathedrale Notre-Dame de Paris mit 14 Millionen Besuchern im Jahr als meistfrequ­entierte Kirche der Welt.
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