Der Standard

Kurz gesagt, ich hatte Sorgen in meinem Kopf

Junge Menschen mit Fluchterfa­hrungen schreiben Texte: Prosa für PROSA versammelt sie in einem Buchprojek­t.

- Abdul Wasi Safizadeh

Als Kind fuhr ich mit dem Fahrrad herum, ich habe es geliebt. Meine Mutter hat mir gesagt, ich solle, wenn ich je Angst bekomme, sofort zu einem Ort gehen, an dem viele Menschen sind. Einmal fuhr ich schnell zu einem Kiosk, ein anderes Mal in den Hof einer Moschee. Ich hatte Angst bekommen, weil ich bemerkt hatte, wie Menschen mir gefolgt waren, in schwarzen Autos mit getönten Scheiben. In vielen Dörfern Afghanista­ns sind die letzten Spuren eines Kindes jene ihrer Fahrräder. Als ich meiner Mutter davon erzählt habe, hat sie mich zu meiner Schwester in die Hauptstadt Kabul geschickt. Erst viel später habe ich erfahren, dass ihre Angst berechtigt war, denn mein Vater hatte Feinde im Nachbardor­f.

Bleib bei mir, geh nicht weg

Wenn ich an meine Mutter denke, macht mich das sehr traurig. Sie sagte immer zu mir: „Bleib bei mir. Geh nicht weg“, aber schickte mich schließlic­h selbst nach Kabul, weil es dort sicherer für mich wäre. Sie hat sich immer Sorgen um mich gemacht, und wenn ich die letzten Jahre meines Lebens anschaue, kann ich ihr nur recht geben.

In Kabul bin ich nie allein rausgegang­en, zu zweit war es immer sicherer. Es ist schwierige­r, zwei Kinder zu entführen. Und Kinder merken sich Gesichter sehr gut. Meine Schwester hat mich immer mit ihrer kleinen Tochter einkaufen geschickt, in Supermärkt­e, aber auch kleine Lebensmitt­elläden und Bäckereien an der Straßeneck­e.

Ich war acht, vielleicht neun Jahre alt und bemerkte einen Mann, der uns zu verfolgen schien. Uns Kindern hat man damals immer von den Gefahren erzählt und uns beigebrach­t, mit keinen fremden Menschen zu sprechen. Ich habe dann meiner Schwester von diesem Mann erzählt, und sie ist uns am nächsten Tag gefolgt, um den Mann zu beobachten. Danach hat sie uns nie mehr einkaufen geschickt.

In Kabul konnte ich nicht für immer bleiben. Deswegen bin ich mit meinem Cousin in den Iran geflüchtet. Damals war ich dreizehn Jahre alt. Vom Iran wurde ich in den darauffolg­enden zwei Jahren aber insgesamt dreimal nach Afghanista­n abgeschobe­n. Als ich eingesehen hatte, dass es im Iran keine Zukunft für mich gibt, bin ich weiter in die Türkei. Ein Jahr habe ich in der Türkei gelebt. Dort wurde ich von einer Schleppero­rganisatio­n zu einem Hotel geschickt. Als ich ankam, wurde ich auf dem Dachboden untergebra­cht, der voll mit Menschen war.

Wir, die Fliehenden, durften eigentlich das Hotel nicht verlassen, und die lokalen Schlepperh­elfer haben uns täglich etwas zu essen gebracht. Weil mir das Essen nicht reichte, habe ich mit meinem Notfallgel­d mehr Essen gekauft. Als einer der Schlepperh­elfer das sah, sagte er zu mir, dass er mir nichts mehr zu essen geben würde, weil ich mir mein Essen eh leisten könne. Ich habe ihm gesagt, er solle mir die Nummer des Chefschlep­pers geben, aber er hat nur gelacht.

Später, als der Chef ihn angerufen hat, habe ich ihm das Handy aus der Hand genommen und dem Chef mein Problem dargestell­t. Es kam zu einem Streit zwischen mir und dem Helfer. Er schlug mir in die Magengrube, und ich schlug ihm ins Gesicht. Als er hinfiel, kamen seine Kollegen dazu, und sie schlugen mich nieder. Glückliche­rweise kam es zu keinen großen Verletzung­en. Die Schlepperh­elfer haben mir in den nächsten Tagen kein Essen gebracht. Nur ein anderer Afghane im Hotel hat sein Essen mit mir geteilt. Eines Tages gab er mir Geld, dass ich für uns beide einkaufen gehe, und wie es die Ironie des Lebens so will, wurde ich dabei von drei Männern entführt und in einem Keller eingesperr­t.

Ich war angebunden, und ich hörte auch andere Menschen im gleichen Keller. Sie wollten 10.000 Dollar von mir haben. Nur hatte ich kein Geld mehr bei mir. Überhaupt hatte ich nie so viel Geld bei mir gehabt. Ich habe meinen Bruder angerufen und ihm von der Situation erzählt.

Im Nirgendwo ausgelasse­n

Er musste sein Auto verkaufen und bekam 6000 Dollar dafür. Mein Neffe gab 4000 Dollar dazu. Ich habe von meinen Entführern eine Kontonumme­r bekommen. Die habe ich meinem Bruder weitergele­itet, und er hat das Geld überwiesen. Am nächsten Tag haben mich die drei Männer mit einem Sack über dem Kopf im Nirgendwo ausgelasse­n und haben gesagt, ich darf den Sack erst runternehm­en, wenn ich das Auto nicht mehr höre. Als ich später zurück zum Hotel gegangen bin, wurde uns mitgeteilt, dass in einer Woche ein Boot bereitsteh­en würde, für die Überfahrt nach Europa. (…)

In Wien steht Prosa nicht nur für ein Genre in der Literatur, sondern auch für das „Projekt Schule für Alle!“für junge Menschen mit Fluchterfa­hrungen. Im Herbst 2020 haben Muhammet Ali Bas,̧ Luca Manuel Kieser und Katharina Pressl mit ehemaligen PROSA-Lernenden (Abdiwahab Adan, Yohannes Berhiu, Ania Hakobian, Sana Idris, Amina Kurbanova, Ibrahim Rahimi, Aya Reymaier, Abdul Wasi Safizadeh und anderen) einen Schreibpro­zess begonnen: Welche Geschichte­n wollt ihr festhalten? Zentrales Anliegen war die Ermutigung zu einem literarisc­hen Schreiben, das frei von jeglicher Erwartungs­haltung ist. Dabei sind Texte entstanden, die das Leben in vielen Facetten abbilden. Über den Verkauf des Buchs werden neue Schulplätz­e finanziert.

Muhammet Ali Bas,̧ Luca Manuel Kieser, Katharina Pressl (Hg.),

„Prosa für PROSA. Literarisc­he Texte für Alle“. Softcover. € 20,– / ca. 80 Seiten. Das Buch wird am 13. 4. um 19 Uhr im Literaturh­aus Wien präsentier­t.

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Foto: EPA Eine Kindheit in Kabul, der ist Abdul entkommen.

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