Zeit, geschichtet
Einer Art unbekannter Choreografie folgend zeichnet die Fotografin Pia Zanetti Interaktionen zwischen Porträtierten nach, sie folgt den Individuen, sie setzt Unschärfe als Stilmittel ein, gekonnt, als würde sie sagen wollen, dass sich das Leben sowieso nicht festhalten lässt. „Das Ballett ist flüchtig, die Welt verändert sich laufend, und es lohnt sich, sie immer neu zu erkunden“, lautet die implizite Botschaft ihrer Arbeiten. „Die Kamera ist nicht mehr die heimliche Beobachterin, sondern wird zum Raum, in dem sich Bilder abspielen“, verrät die 1943 in Basel geborene Fotografin retrospektiv ihren ganz persönlichen Ansatz. „Dabeisein, das Zauberwort der Fotografie, verliert seine voyeuristische Anrüchigkeit, da ist keine Neugier, kein Ehrgeiz, Unerhörtes öffentlich machen zu wollen.“Nichtsdestoweniger ist es das Sichtbar-Machen, das den vornehmlich humanistischen und humanitären Impetus in ihrem Werk ausmacht. Ihr Interesse am Bewegten und am Bewegenden wird in der nun publizierten Retrospektive augenscheinlich. Pia Zanetti arbeitete, nach dem Studium bei Olivio Fontana an der Kunstgewerbeschule Basel, freischaffend für internationale Magazine, Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem für Espresso, Europeo, Adesso, Stern, Paris Match, Elle, Bolero, Du, Telegraph, die Weltwoche und die
Neue Zürcher Zeitung. Viele Reportagen über Recht und Unrecht lieferte sie aus ihrer Wahlheimat Italien, aber auch aus fernen Ländern. Ihr prononcierter Ansatz wird luzide in klaren, ohne erhobenen Zeigefinger auskommenden Serien aus Bangladesch, Laos, Indien, Nepal, Usbekistan oder Lateinamerika. Auch die Sequenzen über die Bürgerrechtsbewegung in den USA sind von zeitloser Bedeutung. Anachronistische Street-Photography at its best. Gregor Auenhammer
Pia Zanetti, „Pia Zanetti. Fotografin“. € 48,– / 126 Seiten. Verlag Scheidegger & Spiess / Cosax Publisher, Zürich 2021
Gedicht