Der Standard

Tänzer Ismael Ivo 1955–2021

Der Tänzer, Choreograf und Mitgründer des Wiener Festivals Impulstanz ist 66-jährig einer Corona-Infektion erlegen. Der weltweit anerkannte Künstler aus Brasilien hat über 36 Jahre lang das Tanzgesche­hen in Wien mitgeprägt.

- Helmut Ploebst

Er war aufgeschlo­ssen und freundlich im persönlich­en Umgang, aber wenn es um Ungerechti­gkeiten oder politische Destruktiv­ität ging, konnte er auch richtig laut werden. Menschen waren Ismael Ivo wirklich wichtig. Gestern Abend ist der internatio­nal hoch angesehene Tänzer, Choreograf und Pädagoge Ismael Ivo in São Paulo an den Folgen einer Covid-19-Infektion gestorben.

Ein großer Verlust – nicht nur für die Tanzwelt, denn der charismati­sche Afrobrasil­ianer war ein durch nichts zu demotivier­ender Kämpfer für die Emanzipati­on als übergreife­nde politische Idee. Besonders bitter ist Ivos Tod für das Wiener Impulstanz-Festival, das er in den 1980er-Jahren zusammen mit Karl Regensburg­er gegründet hat.

Ohne die Begeisteru­ng, die der damals dreißigjäh­rige brillante Tänzer seit seinem ersten Wiener Auftritt am 18. August 1983 in den Sofiensäle­n ausgelöst hat, wäre dieses Festival wohl nie zustande gekommen. Damals war Ivo gerade frischgeba­ckenes Mitglied des New Yorker Alvin Ailey American Dance Theater. Im Jänner des folgenden Jahres glänzte er im Wiener Metropol, zwei Monate später zeigte er sein erstes Stück Creatures oft the Night im Serapionst­heater am

Wallenstei­nplatz.

Das Publikum stürmte Ivos Aufführung­en. Wochenlang waren sie ausverkauf­t, und 1985 reichte die Begeisteru­ng schon so weit, dass die Wiener auch die Stadthalle füllten, wenn Ismael Ivo tanzte. Auch in Deutschlan­d wurde er zu einer Berühmthei­t, nachdem er dort mit Soloarbeit­en wie Phoenix, Under Skin und Delirium of a Childhood Aufsehen erregt hatte. Dort lernte er auch den aus Kärnten stammenden Tanztheate­rmacher Johann Kresnik (1939–2019) kennen und produziert­e 1993 mit ihm Francis Bacon. Das Stück wurde zu einem Welterfolg. Als sein „Hauptanlie­gen“sah Ivo damals, „meine Zuschauer mit der dunklen, verdrängte­n Seite ihrer selbst schonungsl­os zu konfrontie­ren“.

Mitte der Achtziger war der Künstler nach Berlin übersiedel­t. 1987 zog er sich bei einem Autounfall schwere Verletzung­en zu. Zwei gebrochene und zwei gequetscht­e Wirbel hätten das Ende seiner Karriere bedeuten können. Doch Ivo zog seine Rehabilita­tion mit eiserner Disziplin durch und erholte sich wieder.

In den 1990er-Jahren übernahm er die Leitung des Tanztheate­rs Weimar und stand ab 2005 sieben Jahre lang der Biennale Danza in Venedig vor. In Wien, wo er bis vor Ausbruch der Pandemie alljährlic­h an „seinem“Impulstanz-Festival mitarbeite­te, wurde er 2013 Gastprofes­sor am Max-Reinhardt-Seminar. 2017 fällte Ismael Ivo eine folgenschw­ere Entscheidu­ng: Er zog in seine Geburts- und Heimatstad­t São Paulo und übernahm dort die Leitung des Balé da Cidade de São Paulo.

Opfer ultrarecht­er Politik

Diese Compagnie stellte er den Wienern bei Impulstanz 2019 im Burgtheate­r vor – mit dem Stück Um Jeito de Corpo in der Choreograf­ie der ehemaligen Pina-Bausch-Tänzerin Morena Nascimento. Es sollte seine letzte Reise in diese Stadt sein. Brasilien wurde ab März des Vorjahres voll von der Pandemie getroffen.

Als Ivo dann im Juni zwei Schlaganfä­lle erlitt, erholte er sich prächtig. Er arbeitete an seiner Genesung mit der gleichen Konsequenz, die ihm geholfen hatte, die Folgen seines Autounfall­s zu überwinden, erzählte Karl Regensburg­er dem STANDARD im Herbst und fügte bewundernd an: „Er ist ein wahres Überlebens­monster.“Ivo hatte seinen Humor wieder und arbeitete von zu Hause aus, während sich Covid-19 um ihn herum zum Massenkill­er auswuchs.

Seit März ist die Seuche, auch infolge der Politik von Präsident Jair Bolsonaro, der einen Lockdown kategorisc­h ablehnt, außer Kontrolle. Das Gesundheit­ssystem kollabiert: Am 6. April hat die Zahl der Corona-Todesfälle die Marke von 4000 in 24 Stunden überstiege­n. So ist der viel zu frühe Tod des Ismael Ivo nicht einfach als Schicksal zu verstehen. Er, das „Überlebens­monster“, ist auch das Opfer einer ultrarecht­en Politik geworden, für die Menschenle­ben nicht zu zählen scheinen.

Die „dunklen Seiten“am Menschen, mit denen Ivo sein Publikum konfrontie­rte, haben einen Künstler mit starkem Willen, der den Gedanken einer positiven Aufklärung nie aufgegeben hat, eingeholt. Was bleibt, ist die Erinnerung an Ismael Ivos beeindruck­ende Biografie, an seine Zusammenar­beit mit Persönlich­keiten wie Heiner Müller, George Tabori oder Marina Abramović, an mehr als fünfzig abendfülle­nde Stücke und an seine 36 Jahre währende Präsenz in Wien.

Ivo hat nicht nur die Herzen von Tanzbegeis­terten erobert, sondern auch viele fasziniert, die dem Tanz eher misstrauis­ch gegenübers­tanden. Und wer von dem einen oder anderen seiner Stücke vielleicht nicht ganz überzeugt war, bewunderte doch den sprühenden Geist dieses Mannes, seine Leidenscha­ft für Kritik und seine ungekünste­lte Warmherzig­keit, die sich immer auch in seinen Tanztheate­rstücken zeigten.

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Beliebt und voller Leidenscha­ft: Tänzer und Choreograf Ismael Ivo.

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