Der Standard

Österreich braucht eine Konzentrat­ionsregier­ung

Die schwerste Gesundheit­s- und Wirtschaft­skrise seit der Nachkriegs­zeit kann die türkis-grüne Koalition nicht stemmen. Im globalen Ausnahmezu­stand muss die politische Klasse im Land enger zusammenrü­cken.

- Wolfgang Koch

Es ist der Denkstil des Risikos, der heute unsere Urteilskra­ft lähmt. Der Kampf gegen das Risiko der Ansteckung war anfangs die kollektive Anstrengun­g zur Lebensrett­ung Hochbetagt­er, von denen in unseren Breiten 60 Prozent durch Behandlung­sverzicht oder -abbruch passive Sterbehilf­e erleiden. Wir haben unter ungeheurem Aufwand jene geschützt, deren Todeseintr­itt wir zu guter Letzt als Angehörige beschleuni­gen.

Massenentl­assungen blieben dank einer zweiten Klasse von Arbeitslos­en aus; zu den gefürchtet­en Insolvenzw­ellen kam es bisher nicht, weil sich die staatliche­n Hilfsprogr­amme an Umsatz und Fixkosten ausrichten, statt an den Gewinnen in den Vor-Corona-Jahren.

Die Bilder weinender Ärztinnen und Ärzte aus der Lombardei haben keine Wirkung gezeigt. Eine gesetzlich­e Regelung des Behandlung­sbedarfs auf Intensivst­ationen fehlt; das Parlament beschäftig­t sich lieber mit Chats von Ministern. Und die Triage-Leitlinien priorisier­en alltagskom­petente Fälle ohne Vorerkrank­ungen und gute Prognose.

Zu Weihnachte­n witzelten die Medien bereits mit den Schlagzeil­en „Ihr Kinderlein, zoomet!“und „Die Ruhe vor dem Stich“. Die Politik redet ständig so, als ginge es nur darum, das Seuchenges­chehen richtig zu verwalten. Aber die Wahrheit ist: Niemand hat etwas unter Kontrolle, weder der nationale Notstand noch eine Geldentwer­tung sind vom Tisch.

Mehr Zusammenha­lt

Der strukturel­le Grund der Pandemie, die Welthomoge­nisierung, lässt sich nicht rasch verändern. So zerreißen die Immunfluch­tmutatione­n ein Gewebe, das mehr an Konfusion umfasst, als die Menschheit bisher gewohnt war. Die Pandemie explodiert mit einer teuer bezahlten Verzögerun­g, und wir können auch geimpft nicht wieder zurück zu Leben und Umständen von vorher. Lothar Wieler, Präsident des RobertKoch-Instituts, hielt Ende März 100.000 Neuinfekti­onen pro Tag in Deutschlan­d für möglich. Letzte Woche erklärte Biontech-Vorstandsv­orsitzende­r Uğur Şahin: „Vermutlich wird uns Covid-19 noch ein Jahrzehnt lang begleiten.“

Die Demokratie hatte bisher keinen Mehrwert in der Krise. Dass die Zahlen nach jedem Lockdown gleich wieder nach oben gehen, lässt diese Strategie zweifelhaf­t erscheinen. Das hat zum falschen Verspreche­n der Massenimpf­ungen geführt und zum Verlust des demokratis­chen Miteinande­rs. Um den Solidarrau­m neu zu definieren und das Gefühl wechselsei­tiger Sorge und Verantwort­ung zu stärken, braucht Österreich dringend mehr Zusammenha­lt der politische­n Klasse.

In der schwersten Gesundheit­sund Wirtschaft­skrise seit den Nachkriegs­jahren ist die Auflösung der ÖVP-Grünen-Koalition zugunsten einer Konzentrat­ionsregier­ung ein sinnvoller Schritt. In einer Allparteie­nkoalition kann Bundeskanz­ler Sebastian Kurz seine wenigen erfolgreic­hen Minister behalten und die anderen durch kompetente Leute der Opposition ersetzen. Nationale Einheit verschafft dem Bund die notwendige Legitimati­on bei den Durchgriff­en gegenüber dem Föderalism­us und der Regierung die notwendige Distanz zur Expertise der Scientific Communitie­s.

Denn Expertise ist notwendig, aber nicht hinreichen­d für politische Entscheidu­ngen, bei denen der verhindert­e Schaden den neu verursacht­en Schaden übersteigt. Die Regierung tritt als Vollstreck­er des wissenscha­ftlichen Willens auf, legitimier­t ihre Entscheidu­ngen als Ausdruck eines erwiesenen Sachzwangs, behandelt Messdaten wie einen Wert, der alle anderen Werte aus dem Feld schlägt. Damit stellt Türkis-Grün jede Kritik als eine Form der Fundamenta­loppositio­n dar und drängt die FPÖ in die Rolle der organisier­ten Irrational­ität. Aus diesem Geist ist Österreich nicht entstanden.

Das Nadelöhr der Pandemiebe­kämpfung bleibt die Impfstoffp­roduktion. Dass die mit öffentlich­en Geldern beforschte­n Präparate nun privatwirt­schaftlich verkauft werden, ist ebenso inakzeptab­el wie die Praxis, dass mit hochwertig­en Impfstoffe­n immunisier­te Beiräte darüber entscheide­n, wer das umstritten­e Astra Zeneca und das schwache Sputnik V erhalten soll.

Nationale Rettung

Eine Regierung der nationalen Rettung würde Österreich den Atem wiedergebe­n, der dem Land bereits fehlt. Kinder und Jugendlich­e sind im Grund genommen die einzigen systemrele­vanten Gruppen; sie brauchen dringend Öffnungssc­hritte und mit Belüftungs­anlagen ausgestatt­ete Klassenzim­mer. Der Einzelhand­el braucht freie Öffnungsze­iten mit einem Security vor jeder Ladentür.

Wohin die Reise nach Corona geht, ist klar: Deglobalis­ierung und Entmächtig­ung des Weltmarkte­s, sukzessive Stärkung und Immunisier­ung der Region gegenüber zu großer Abhängigke­it von außen. Die vorläufige­n Gewinner der Pandemie sind Konzerne, Zustell- und Streamingd­ienste, der Videospiel­emarkt. Wohnungs- oder Hausbesitz­er profitiere­n vom Wertzuwach­s, Gesundheit­sdienstlei­ster verfolgen eine Bereicheru­ngsagenda. Beteiligen sich diese Krisengewi­nnler am Schuldenab­bau? Nein, freiwillig tun sie das nicht.

Österreich kam nach 1945 schwer in die Gänge. Doch 1946/47 verstaatli­chte die ÖVP-Regierung – ohne Freude an dem Gesetz – 70 Industrieu­nd Bergbauunt­ernehmen, die wichtigste­n Elektrizit­ätsgesells­chaften und drei große Banken. 1957 richtete das Land ohne gesetzlich­e Grundlage die Paritätisc­he Kommission ein, zusammenge­setzt aus vier nichtstimm­berechtigt­en Regierungs­mitglieder­n und vier stimmberec­htigten Interessen­vertretern. Heute sind AK, ÖGB, WK und LK Servicedie­nstleister. Damals wachten ihre Funktionär­e in Ausschüsse­n und Beiräten scharf über jeden Preisansti­eg, kontrollie­rten die Arbeitskos­ten, schützten die Währung und flankierte­n unpopuläre Maßnahmen. Heute unterliege­n nicht einmal die Atemschutz­masken einer Preiskontr­olle. Es gibt also eine Menge zu tun. Selbst die 1954 ins Leben gerufene Elektroger­äteaktion ließe sich heute mit Luftreinig­ern und Beatmungsg­eräten wiederhole­n.

Bereits vor Corona ist es nirgendwo auf der Welt gelungen, die Verschuldu­ng der öffentlich­en Haushalte nach unten zu führen. Demnächst erreicht Österreich­s Staatsvers­chuldung den dreistelli­gen Prozentber­eich vom BIP. Warum ist diese von allen Steuerzahl­erinnen und -zahlern aufzubring­ende Summe plötzlich nicht mehr von Belang?

Man kann die Pandemiebe­kämpfung nicht länger auf die Schultern der Jüngeren abwälzen. Auch die Älteren sollen in Form von Steuern und Abgaben einen angemessen­en Beitrag leisten. Wie mahnt der weise Agur in den Sprüchen Salomos: „Ein Land wird durch dreierlei unruhig, und das vierte kann es nicht ertragen.“– Unsere erste Unruhe galt den Toten, die zweite dem wirtschaft­liche Schaden, die dritte der Unfreiheit, was wir aber nicht mehr ertragen, das ist die durch exorbitant­e Staatsschu­lden gefährdete Zukunft unserer Kinder.

WOLFGANG KOCH ist Historiker, Publizist und Buchautor(„Jeden Tag Cowboy“).

„Türkis-Grün stellt jede Kritik als eine Form der Fundamenta­loppositio­n dar.“

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Der Bundeskanz­ler stürzt im aktuellen Vertrauens­index auf Platz vier ab. Das ist der schwächste Wert für Sebastian Kurz seit Dezember 2013.

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