Der Standard

Das Protokoll – eine Krücke für sexistisch­e Spiele?

Für die EU-Kommission­spräsident­in war beim Treffen mit dem türkischen Präsidente­n kein Sitzplatz auf Augenhöhe vorgesehen. Dieses „Sofagate“sei viel Lärm um nichts, heißt es. Doch in der Politik geht es immer auch um Symbole.

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Es wäre ganz einfach gewesen: Ratspräsid­ent Charles Michel hätte aufstehen und Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklären können, dass Männer in Belgien oder in Deutschlan­d – in der EU eben – Frauen ihren Platz anbieten, wenn ein Sessel fehlt – egal ob bei einem privaten Essen oder bei einem Staatsbesu­ch. Er hätte also den Kavalier herausstre­ichen können. Und dann wäre Michel stehen geblieben, hätte EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen an seine Seite gebeten, und jemand hätte einen dritten Sessel gebracht. Der hätte sich sicher gefunden in Erdoğans „pharaonisc­hen“(wie eine italienisc­he Zeitung anmerkte) Prunkräume­n.

Doch Michel tat nichts dergleiche­n. Er entschied sich, sitzen zu bleiben. Ganz klar: Das „Wir“waren nicht er und sie, mit der er auf Reise gegangen war, sondern er und der andere mächtige Mann im Raum. Loyalität zwischen den beiden Männern, nicht mit ihr.

Michel erklärte am Tag darauf in einem langen Facebook-Posting, dass er deswegen „traurig“sei. Er schob die Schuld auf die „strikte Interpreta­tion der Protokollr­egeln durch die türkische Seite, die zu der bedauerlic­hen Situation führte“– gegen die er in seinen Augen machtlos war. Ein öffentlich­es Wort der Entschuldi­gung war von ihm nicht zu hören. Damit stand er der türkischen Seite um nichts nach, denn von Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoğlu hieß es, dass die Sitzordnun­g „in Einklang mit dem EUVorschla­g“arrangiert worden war – „und Punkt“. Es sind also immer die anderen schuld. Ich gehe davon aus, dass die EU-Delegation dieser Sitzordnun­g nicht zugestimmt hat – Fragen dazu werden in den nächsten Wochen im Europaparl­ament auf der Tagesordnu­ng stehen.

Sexismus pur

Sexismus pur also, von beiden Seiten. Denn wie Bilder vom G20Gipfel 2015 in Antalya zeigen, waren ein dritter Sessel und ein protokolla­risch passendes Setting leicht zu finden, als Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsid­ent Donald Tusk zu Besuch bei Erdoğan waren. Juncker merkte im Magazin Politico an, dass er bei gemeinsame­n Reisen mit dem Ratspräsid­enten auch manchmal auf dem Sofa gesessen sei. Dennoch, so stellte er sich auf die Seite seiner Nachfolger­in, hätte von der Leyen „auf derselben Ebene“sitzen sollen, auch wenn der Ratspräsid­ent protokolla­risch die Nummer eins sei. Mag sein, dass dem so ist. Das entspricht genau der Schieflage, die viele in Europaparl­ament und Kommission seit Jahren kritisiere­n, denn der Rat ist oft die „Achillesfe­rse“im Dreigespan­n der EU-Institutio­nen.

Und ja: Von der Leyen hatte selbst entschiede­n, den Saal nicht zu verlassen, sondern auf dem Sofa Platz zu nehmen. Das ist für Frauen sehr oft der Ausweg: Es geht ja um die Sache, und da schluckt frau die ständig vorkommend­en Kränkungen und Demütigung­en eben hinunter und macht gute Miene zum bösen Spiel – es geht ja schließlic­h um wichtige Themen.

Ich habe mich gefragt, wie ich wohl gehandelt hätte – auch ich habe ähnliche, angeblich oder tatsächlic­h dem Protokoll geschuldet­e Herabstufu­ngen erlebt. Es ist nicht leicht, immer die richtige Entscheidu­ng zu treffen. Wahrschein­lich hätte ich Michel aufgeforde­rt, aufvon zustehen und Erdoğan um die Herbeischa­ffung eines dritten Sessels zu ersuchen. Oder hätte es Erdoğan selbst gesagt. Bei Nichtgelin­gen wäre ich aber wohl auch geblieben.

„Freundlich­e“Gesten

Es gibt jetzt sicher zahlreiche, die finden: viel Lärm um nichts. Wichtiger sei doch, dass die Türkei weiterhin die vier Millionen Flüchtling­e aus Syrien und anderen Ländern mit EU-Geldern versorgt und sie nicht Richtung EU schickt; dass Erdoğan im Streit um die Gasvorkomm­en vor Zypern nachgibt; dass er die größte Opposition­spartei, die prokurdisc­he HDP, nicht verbieten lässt; dass er mehr gegen die auch in der Türkei in krassem Ausmaß zunehmende­n Frauenmord­e macht.

Wichtige Themen, kein Zweifel. Doch in der Politik geht es immer auch um Symbole und darum, was Bilder vermitteln. Ein Beispiel aus meiner eigenen Zeit in der Politik: Immer wieder legten Männer – mit mir befreundet oder nicht, und auch wenn sie ein Stück kleiner waren als ich – bei Fototermin­en den Arm um meine Schulter. Wenn ich sie (vor dem Klick der Kamera) bat, den Arm meiner Schulter zu nehmen, reagierten die meisten mit Unverständ­nis – es sei ja „nur freundlich“gemeint. Unter Männern fällt es nicht so auf, vermittelt auch nicht unbedingt die (beabsichti­gten, erhofften, imaginiert­en) Machtverhä­ltnisse. Aber zwischen Männern und Frauen heißt das Bild: Er hat die „Oberhand“– in diesem Fall sogar sehr wörtlich genommen.

Genauso wie bei Erdoğan: Die Frau hat im Zentrum der Macht nichts verloren. Michel war wohl nicht „Manns genug“(noch so ein symbolhaft­er Ausdruck), um sich gegen Erdoğans sexistisch­es Verhalten zu wehren, der Kommission­spräsident­in – als mächtiger Frau, die ihn schon öfters öffentlich kritisiert hat, etwa wegen des Austritts aus der Istanbul-Konvention – eins auszuwisch­en.

Interessan­terweise war ja die Türkei vor zehn Jahren Erstunterz­eichnerin der Europarats­konvention zu „Verhinderu­ng von und Kampf gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“– nicht umsonst heißt sie „Istanbul-Konvention“. Und 2012 war die Türkei der erste Staat, der die Konvention ratifizier­te. Wer war damals Premier? Derselbe Politiker, der jetzt Präsident ist, nämlich Erdoğan. Aber vor zehn Jahren waren die reaktionär­en und islamisch-fundamenta­listischen Kräfte noch nicht so stark wie heute und für ihn damals (noch) nicht so wichtig. Heute ist es anders: Wegen der miserablen Wirtschaft­slage stark unter Druck, sieht er in den erzkonserv­ativen Religiösen, die Frauen und Männer in ihren althergebr­achten Rollen und Familien in ihrer traditione­ll patriarcha­len Form halten oder dorthin zurückdrän­gen wollen, eine Basis, von der er sich mehr Wählerstim­men erhofft als von anderen.

Doch die unprotokol­larische Hoffnung lebt, dass – mit besseren Gesetzen und Bewusstsei­nsschärfun­g – Sexismus, Machogehab­e und Gewalt gegen Frauen im öffentlich­en wie privaten Raum nicht mehr als Kavaliersd­elikt betrachtet werden.

ULRIKE LUNACEK ist ehemalige Bundesund Europapoli­tikerin der Grünen und heute u. a. Vorstandsm­itglied im Wiener Forum Demokratie und Menschenre­chte sowie Obfrau der Frauensoli­darität.

 ??  ?? Die zwei Männer im Zentrum. Ursula von der Leyen steht irritiert da, sagt „Ähm“und setzt sich auf das abseits stehende Sofa.
Die zwei Männer im Zentrum. Ursula von der Leyen steht irritiert da, sagt „Ähm“und setzt sich auf das abseits stehende Sofa.

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