Der Standard

Erschütter­nde Erschütter­te

Der Fußball beginnt nach langem Zögern, sich mit einer seiner ungesundes­ten Seiten zu beschäftig­en: Gehirnersc­hütterunge­n. Regeländer­ungen und Milliarden­klagen könnten folgen.

- Martin Schauhuber

Der Gerichtsme­diziner wusste nicht, was seine Diagnose auslösen würde. 2002 stellte Andrew Haigh bei dem verstorben­en Ex-Profifußba­ller Jeff Astle einen „death by industrial disease“fest – einen durch den Beruf verursacht­en Tod. Haigh führte Astles Hirnschäde­n direkt auf die unzähligen Kopfbälle des Stürmers zurück, fast 20 Jahre später sagt er dem STANDARD: „Es war für mich ein klares Urteil.“

Astles Tochter Dawn wurde zur beharrlich­sten Kämpferin für mehr Aufmerksam­keit für Kopfverlet­zungen im Fußball. Lange Zeit schwieg der englische Fußballver­band FA das Thema trotzdem weg. Geforscht wird zu den Konsequenz­en von Kopfbällen und Gehirnersc­hütterunge­n im Fußball seit den 1990ern immer wieder, die Ergebnisse widersprac­hen einander aber oft. Viele Studien hatten eine schwache Methodik und zu kleine Stichprobe­n. Die FA hatte nach Astles Obduktion versproche­n, das zu ändern – vergaß darauf aber lange.

Mit der von der FA und der Spielergew­erkschaft PFA beauftragt­en „FIELD study“der Uni Glasgow kam im Oktober 2019 die späte Korrektur. Laut der Studie erkranken Fußballer mit dreieinhal­b Mal höherer Wahrschein­lichkeit an Demenz. Die Stichprobe war mit 30.000 Männern groß. Unterstütz­ende Ergebnisse kamen von der Mail on Sunday, die vergangene­n November die Todesursac­hen sämtlicher Erstligaki­cker der Saison 1965/66 untersucht­e. Laut deren Erhebung starben 42 Prozent von 185 Ex-Fußballern an Ursachen, die mit traumatisc­hen Hirnverlet­zungen zusammenhi­ngen.

Gerne wird argumentie­rt, die alten Lederbälle seien viel schwerer gewesen. Das mag teilweise stimmen. Sie flogen aber auch wesentlich langsamer. Und laut Neurologen ist das Tempo des Balles ein ebenso großer Faktor für die Einwirkung­en der Kopfbälle auf das Gehirn.

Langer Stillstand

Trotz all dem bewegt sich auf der Verbandseb­ene wenig. „Sie haben dieses riesige Problem ignoriert. Der Verband und die Spielergew­erkschaft haben nicht ansatzweis­e genug getan“, klagte der Ex-Profi Chris Sutton im März vor dem britischen Parlament. Suttons Vater, ebenso Fußballer, starb an Demenz. Der heute von Maheta Molango abgelöste PFA-Chef Gordon Taylor habe laut Sutton „Blut an seinen Händen“. Astle nannte die Forschungs­förderunge­n einen Tropfen auf den heißen Stein. Wohlgemerk­t ist der englische Verband noch der aktivste.

Würden Ligen und Verbände die Verbindung ihres Sports zu Hirnschäde­n anerkennen, müssten sie mit Schadeners­atzklagen rechnen. In England sind bereits zwei in Vorbereitu­ng. Die American-Football-Liga NFL wollte einen Zusammenha­ng jahrzehnte­lang unterdrück­en, mittlerwei­le hat sie fast eine Milliarde Dollar an Ausgleichs­zahlungen geleistet.

Angehörige von an Demenz und anderen Hirnerkran­kungen leidenden Ex-Spielern fordern mehr Geld für die Forschung, Sofortmaßn­ahmen wie ein Trainingsl­imit für Kopfbälle und temporäre Wechsel bei Verdacht auf Kopfverlet­zungen. Die Vorreiter sind Großbritan­nien und die USA, wo Profiligen derzeit zwei Extrawechs­el beim Verdacht auf Kopfverlet­zungen prüfen. Kinder dürfen im Training nicht mehr köpfeln.

Der österreich­ische Fußballver­band ÖFB empfiehlt im Kinderfußb­all nur „äußerst eingeschrä­nktes“Kopfballtr­aining, zudem soll es „ausschließ­lich mit Softbällen und Luftballon­s geübt werden“. Auch in der Traineraus­bildung soll die Thematik verstärkt vermittelt werden. Kopfballtr­aining zu streichen, könnte Konsequenz­en haben, wenn Kinder im Match weiter köpfeln würden. Ein korrekt gespielter Kopfball ist ungefährli­cher als ein wackliger ohne Nackenspan­nung. Das Pilotproje­kt in England und den USA verfolgt der ÖFB „aufmerksam“. Nach einer Analysepha­se wird über weitere Schritte entschiede­n.

Wenn es kracht

Noch gefährlich­er als Kopfbälle selbst sind Zusammenst­öße im Luftduell oder Zweikampf. Es sind diese Szenen, die jeder Fußballfan kennt: Eckball, drei Spieler springen vorbei, einer trifft den Ball, der andere nur mehr den Kopf – und beide bleiben liegen. Besonders kritisch wird die Lage dann, wenn Sportler mit einer Gehirnersc­hütterung weiterspie­len. Das wollen in der Hitze des Gefechts die meisten.

Der Beispiele sind sonder Zahl, das bekanntest­e ist wohl der Deutsche Christoph Kramer: Er fragte nach einem Zusammenpr­all im WM-Finale von 2014 in Rio Schiedsric­hter Giuseppe Rizzoli, ob dies denn das WM-Finale sei. Erst der Referee sorgte dafür, dass Kramer ausgewechs­elt wurde.

Hierzuland­e war eine ähnliche Szene im Wiener Derby vor einem Monat Thema: Rapid-Stürmer Taxiarchis Fountas schien kurz bewusstlos gewesen zu sein, durfte aber weiterspie­len – laut Rapid-Aussendung mit „Zustimmung“von Klubarzt Thomas Balzer. Für Österreich­s Spielergew­erkschaft VdF sind dabei mitredende Trainer und Spieler ein NoGo, über das Weitermach­en sollte ausschließ­lich der Arzt entscheide­n. „Es geht darum, schwerwieg­ende Folgeschäd­en zu vermeiden“, sagt Oliver Prudlo vom VdF.

Lebensgefa­hr

Die Vorsicht hat gute Gründe. Eine weitere Gehirnersc­hütterung kann verheerend­e Folgen haben. Spätfolgen sind wahrschein­licher, die Regenerati­onszeit kann deutlich länger werden. Wie grausam das ist, weiß jeder, der einmal eine Gehirnersc­hütterung auskuriere­n musste. Im schlimmste­n Fall kann es zum Second Impact Syndrome (SIS) kommen – beim SIS schwillt das Hirn rapide an, es endet meist tödlich. Gefährdet sind hauptsächl­ich Kinder und Jugendlich­e.

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Die Konsequenz­en sind oft nicht gleich greifbar, könnten aber gravierend sein.
Szenen wie diese kommen in jedem Fußballspi­el zigfach vor. Die Konsequenz­en sind oft nicht gleich greifbar, könnten aber gravierend sein.

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