Der Standard

Langzeitar­beitslosig­keit – wo zu wenig hingeschau­t wird

Die leichte Aufstockun­g der Notstandsh­ilfe auf die Höhe des Arbeitslos­engelds war ein richtiger Schritt der Bundesregi­erung. Doch sie ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, weil die Situation auf dem Arbeitsmar­kt dramatisch­er ist als öffentlich verkünd

- Oliver Picek

Minus 19 Prozent. War das ein Aprilscher­z? Am gleichen Tag, an dem in der Ostregion ein harter Lockdown in Kraft trat, freute sich Arbeitsmin­ister Martin Kocher über konstant positive Zahlen seit Wochen, feierte gar die gesunkenen Zahlen von Februar auf März sowie jene im Vergleich zum katastroph­alen Monat des Vorjahrs, als Corona ausbrach. Beide Vergleiche muten eigen an. Erinnern gar leicht an „alternativ­e Fakten“, die Ex-Präsident Donald Trump gerne für seine Argumentat­ion präsentier­te. Den ersten Vergleich – Februar auf März – macht niemand, weil die Arbeitslos­igkeit jedes Jahr zum Sommer hin sowieso sinkt. Der zweite Vergleich mit der Rekordarbe­itslosigke­it des ersten Lockdowns zeugt nicht gerade von einem ambitionie­rten Ziel. Genauer betrachtet sieht die Situation am Arbeitsmar­kt alles andere als rosig aus. Die Zahl der Corona-bedingten Arbeitslos­en liegt bei 88.000 Menschen und damit höher als vor der zweiten Welle im Herbst.

Tatsächlic­h ist es aber viel schlimmer. Die Krise am Arbeitsmar­kt erreicht aktuell dort ihren Höhepunkt, wo zu wenig hingeschau­t wird: Ende März zählt das Land über 190.000 Langzeitar­beitslose. Noch nie waren in Österreich so viele Menschen länger als ein Jahr auf Jobsuche. Darin enthalten sind 150.000 Menschen, die beim AMS als arbeitslos registrier­t sind. Knapp um die Hälfte mehr seit Ausbruch der Pandemie. Dazu kommen aber noch rund 40.000 Langzeitar­beitslose, die an Schulungen teilnehmen. Sie werden in der regulären Monatsstat­istik des AMS unter den Tisch gekehrt, die Zahl kleiner gerechnet.

Brutaler Sesseltanz

Allein von Februar auf März erhielten knapp 10.000 Menschen zusätzlich den Stempel „langzeitar­beitslos“verpasst. Es wurde der größte Anstieg innerhalb eines Monats seit Beginn der Aufzeichnu­ngen 2004. Im April werden noch einmal Tausende folgen, die inmitten des ersten Lockdowns ihre Arbeit verloren haben.

Der Arbeitsmar­kt ist ein brutaler Sesseltanz geworden, fünf bis zehn Arbeitslos­e auf eine offene Stelle. Unternehme­rinnen und Unternehme­r suchen sich die leistungsf­ähigsten, jüngsten und billigsten Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r. Deshalb bleiben Menschen über 55 Jahren oder mit gesundheit­lichen Problemen oder weniger langer formaler Ausbildung tendenziel­l arbeitslos. Doch die Langzeitar­beitslosig­keit kommt mittlerwei­le in der Mitte

der Gesellscha­ft an. Wie das Virus kann die stigmatisi­erende Bezeichnun­g alle treffen, die sich nicht durch einen krisenfest­en Job in Sicherheit wiegen können. Denn die stärksten Zuwachsrat­en fanden im Alter zwischen 25 und 44 Jahren statt. Und erstmals erfuhr auch der Westen des Landes einen Schub.

Wirtschaft­sforscheri­nnen und -forscher betrachten Langzeitar­beitslosig­keit als das größte Problem auf dem Arbeitsmar­kt. Sieben von zehn Langzeitar­beitslosen gelten als armutsgefä­hrdet, die psychische und finanziell­e Belastung ist enorm. Arbeitslos­e fühlen sich verstärkt von der Gesellscha­ft ausgeschlo­ssen, neigen zu Depression­en, leiden dreimal so oft unter schlechter Gesundheit. Der Abbau von

Langzeitar­beitslosig­keit ist schwierig und dauert extrem lange – das zeigt die Zeit vor Corona. Trotz drei Jahren Aufschwung ging die Zahl der Langzeitar­beitslosen nur wenig zurück. Ohne zusätzlich­e Maßnahmen wird ein Abbau kaum gelingen. Die Bundesregi­erung braucht daher dringend einen Masterplan – für jetzt und für die Zeit des Aufschwung­s.

Umschulung­en sind zwar sinnvoll, garantiere­n aber keinen Arbeitspla­tz danach. Und wer ernsthaft glaubt, mit einer Reform des Arbeitslos­engeldes oder teuren Kombilohnm­odellen nach der Krise zehntausen­de Arbeitsplä­tze aus dem Nichts herbeizaub­ern zu können, übt sich in Realitätsv­erweigerun­g.

Bis dahin hilft ohnehin nur ein höheres Arbeitslos­engeld, das auch die Notstandsh­ilfe mit nach oben zieht. Oder zumindest regelmäßig­e weitere Einmalzahl­ungen, wie es sie 2020 gab. Arbeitslos­e sollten nicht für Versäumnis­se bei der Impfstoffb­eschaffung zu bezahlen haben.

Beispielha­fte Projekte

Die Lage ist trist, aber nicht hoffnungsl­os. Die Bundesländ­er und das AMS führen derzeit mehrere beispielha­fte Projekte durch, die aktiv Langzeitar­beitslosig­keit bekämpfen. 1.000 Menschen wurden inklusive neuer Jobs als Verwaltung­shilfen zur Unterstütz­ung an Schulen vermittelt. Das AMS Niederöste­rreich führt ein Experiment in Marienthal durch, bei dem Langzeitar­beitslosen ein staatliche­r oder privater Job angeboten wird. Die Aktion 20.000 schuf tausende öffentlich­e Arbeitsplä­tze in Gemeinden und Vereinen. Sie wurde zweimal positiv wissenscha­ftlich evaluiert, was gerade Kocher eigentlich überzeugen müsste. Wenn man der Langzeitar­beitslosig­keit wirklich den Kampf ansagen will, wird die Regierung nicht um eine öffentlich­e Beschäftig­ungsaktion herumkomme­n.

Die zusätzlich­e Arbeitskra­ft wird auch dringend gebraucht: Österreich hat im internatio­nalen Vergleich eher wenig staatliche­s Personal: All unsere skandinavi­schen Vorbilder liegen deutlich darüber. Der Bedarf an Personal in der Pflege, Gesundheit, an Schulen, im Klimaschut­z und in der öffentlich­en Verwaltung wie der Justiz ist seit Jahren bekannt. Langzeitar­beitslose könnten dort, wo die Qualifikat­ion stimmt, verpflicht­end bevorzugt eingestell­t werden. Höchste Zeit loszulegen.

OLIVER PICEK ist Chefökonom der soziallibe­ralen Denkfabrik Momentum-Institut.

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Arbeitsmin­ister Kocher rechnet im Sommer mit einer „spürbaren Entlastung“bei der Arbeitslos­igkeit. Er ist Mitglied eines Regierungs­teams, das einen wirtschaft­lichen „Comeback-Plan“vorbereite­t.

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