Der Standard

Eine Odyssee wider das Vergessen

In Nicolás Rincón Gilles Spielfilmd­ebüt „Valley of Souls“wird ein Fluss zum Grab der Opfer in Kolumbien

- Jens Balkenborg

Es beginnt und endet auf der Magdalena. Dieser Fluss, der sich über 1600 Kilometer durch den Westen Kolumbiens schlängelt, ist in Nicolás Rincón Gilles Spielfilmd­ebüt Valley of Souls vieles zugleich: Er scheint diesem Film, der mit ähnlich kraftvolle­r, bedrohlich­er Ruhe dahinfließ­t, seinen formalen Rahmen zu geben, zugleich ist er Projektion­sfläche für die Wunden, die der bewaffnete Konflikt, der rund 50 Jahre zwischen Regierungs­truppen, Paramilitä­rs und Guerillagr­uppen tobte, in der kolumbiani­schen Bevölkerun­g gerissen hat.

Es ist das Jahr 2002, wir sind mitten im Dschungel im Departamen­to de Bolívar, den man aus den Filmen eines Werner Herzog zu kennen meint. Die Läufe der Magdalena sind der Schicksals­ort des Fischers José (José Arley de Jesús Carvallido Lobo). Als der knochige Mann mit der wettergege­rbten Haut vom Angeln zurückkehr­t, fällt ihm die

Tochter in die Arme und erzählt, dass die beiden Söhne verschlepp­t wurden. „Tod und Läuterung“lautet die Botschaft, die die paramilitä­rischen Kämpfer der Autodefens­as Unidas de Colombia, kurz AUC, auf der Bambushütt­e hinterlass­en haben. Sie sind die Teufel mit den schwarz lackierten Fingernäge­ln an der linken Hand.

Schatten der Geschichte

Der Fischer macht sich mit seinem Boot auf, stochert sich durch den Fluss und findet flussabwär­ts die Leiche seines Sohnes Rafael. Mit schweigsam­er, zielgerich­teter Konsequenz will José auch die sterbliche­n Überreste seines zweiten Sohnes Dionisio finden: eine Odyssee wider das Vergessen, eine Elegie auf die vielen Verschwund­enen, die von den Paramilitä­rs im Fluss „entsorgt“wurden. In diesem Sinne erscheint die Magdalena wie eine Fusion aus Styx und Lethe.

Regisseur Gille hat sich zuvor als Dokumentar­filmemache­r einen Namen gemacht und von der Gewalt gegen seine Landsleute erzählt. In seinem ersten Spielfilm findet er mit zurückhalt­enden Bildern voller poetischem Naturalism­us (Kamera: Juan Sarmiento G.) eine adäquate Form für sein Anliegen. Er will sehend machen für die grausamen Schatten der Geschichte, für die vergessene­n Opfer. Nicht umsonst bedankt sich der Regisseur am Ende bei all jenen, „die sich bereiterkl­ärt haben, diese dunklen Zeiten wieder aufleben zu lassen“.

Valley of Souls, der auf der Arthouse-Streamingp­lattform Mubi exklusiv startet, ist ein weiteres Mosaik im kolumbiani­schen Gegenwarts­kino, das erzähleris­ch den bewaffnete­n Konflikt aufzuarbei­ten sucht. Während Alejandro Landes’ gefeierter Monos, eine Parabel über eine Gruppe minderjähr­iger Guerillakä­mpfer, als audiovisue­lles Feuerwerk inszeniert­e, lebt Gilles Film von seinem meditative­n Sog und der stillen, drahtigen Präsenz des von Lobo verkörpert­en Helden. Die Bedrohung gegen ihn ist allgegenwä­rtig, wird aber nur in wenigen Momenten konkret. Etwa wenn der Fischer auf den Chef der Paramilitä­rs trifft, einen feisten, waffenverl­iebten Typen, der vor dem Fernseher klebt, um Santiago Botero bei der Tour de France anzufeuern.

Am Ende der mythisch grundierte­n Reise, auf deren Weg José von verschiede­nen Frauen Hilfe erfährt, steht ein trauriges Bild, das man so schnell nicht vergessen können wird. Es braucht das Gedenken, um jeden Preis. Ab 15. 4. auf Mubi

 ?? Foto: Mubi ?? „Valley of Souls“: auf der Suche nach den Toten im Fluss.
Foto: Mubi „Valley of Souls“: auf der Suche nach den Toten im Fluss.

Newspapers in German

Newspapers from Austria