Der Standard

„Eltern fühlen sich im Stich gelassen“

Die Soziologin Ulrike Zartler befragt seit dem ersten Lockdown Familien zu ihrer Situation. Nach mehr als einem Jahr seien viele Eltern nicht nur erschöpft, sondern sogar verzweifel­t. Was es jetzt notwendig wäre, um ihnen zu helfen.

- Zartler: Vor allem haben sie auf Selbstopti­mierung gesetzt. Sie sind INTERVIEW: Lisa Breit

Nicht zu wissen, wohin mit den Kindern, die Arbeit frühmorgen­s und spätnachts zu erledigen, Lehrerin, Animateur, Köchin und Psychologe gleichzeit­ig zu sein: Nicht nur das stellte Eltern in den letzten Monaten vor enorme Herausford­erungen, sagt Ulrike Zartler, Soziologin an der Universitä­t Wien. Gemeinsam mit ihrem Team befragt sie seit Beginn der Krise 98 Familien mit insgesamt 181 Kindern im Kindergart­enund Schulalter. Zunächst einmal pro Woche und später in größeren Abständen. Kürzlich erhielt Zartler eine Akutförder­ung des Wissenscha­ftsfonds FWF. Sie will die Studie bis 2022 weiterführ­en, um auch die langfristi­gen Auswirkung­en der Corona-Krise zu erforschen.

STANDARD: Sie haben zu Beginn des ersten Lockdowns begonnen, Familien zu ihrer Situation zu befragen. Hatten Sie auch nur eine leise Ahnung, wie wichtig die Studie bald sein wird?

Zartler: Nein. Das hört sich vielleicht blauäugig an, aber meine Erwartung war: Diese Befragunge­n dauern jetzt drei Wochen, dann sind Osterferie­n, und danach ist alles wie immer. Ich wollte schnell beginnen, um diesen Ausnahmezu­stand einzufange­n, bevor wir wieder zum normalen Leben übergehen. Außerdem wurde ich häufig von Journalist­en gefragt: Wie geht es den Familien? Wie werden sie mit der Situation zurechtkom­men? Aber dazu gab es ja noch keine Studien. Also habe ich selbst eine gemacht.

STANDARD: Sie führen mehrstündi­ge Interviews mit Eltern und analysiere­n Tagebuchei­nträge. Wie haben sich die Themen im Zeitverlau­f verändert?

Zartler: Auffällig war, dass die Ängste um die Bildung der Kinder im Zeitverlau­f zugenommen haben. Zunächst vor allem vonseiten der Eltern, die nicht gut Deutsch sprechen und ihre Kinder im Homeschool­ing nicht gut unterstütz­en können, aber später auch von anderen. Dass ihre Kinder Wichtiges versäumen, hat Eltern sehr belastet. Familien ohne Geldsorgen und mit viel Platz haben den Lockdown zu Beginn sogar genossen. Sie haben ihn „CoronaUrla­ub“genannt. Aber schon bald fühlten auch sie sich ausgelaugt.

STANDARD: Wann ist die Stimmung

gekippt?

Zartler: Im Frühsommer. Wobei es im Sommer, wo ein normales Leben ansatzweis­e möglich war, ein kleines Stimmungsh­och gegeben hat. Mit dem zweiten Lockdown im Herbst sind aber Frust und Lethargie eingetrete­n. Im Spätherbst sind sie in Verzweiflu­ng übergegang­en.

STANDARD: Viele haben nach den Erfahrunge­n im Frühjahr gesagt: „Wir schaffen keinen zweiten Lockdown.“Dann wurden es aber ein zweiter, ein dritter und vielerorts sogar ein vierter.

Zartler: Das hat Eltern an ihre Grenzen gebracht und teilweise darüber hinaus. Aber nicht nur die Lockdowns, auch die Zeit dazwischen war belastend. Erstens fand ja der Unterricht nur sehr unregelmäß­ig statt. Zweitens wurden die kurzen Phasen des Schulbesuc­hs immer wieder durch Quarantäne­n unterbroch­en, weil Schüler oder Lehrer krank waren. Gerade für die Jugendlich­en ist das hart. Sie hatten seit mehr als einem Jahr keinen regulären Unterricht mehr. Für die Eltern bedeutete das: Sie waren von einem Tag auf den anderen nicht mehr nur Papa und Mama, sondern auch Lehrerinne­n, Animateure, Köchinnen und Psychologe­n. Und daneben noch Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er.

STANDARD: Welche Strategien wählten sie, um den Spagat zu schaffen?

noch früher aufgestand­en, haben versucht, im Job noch effiziente­r zu sein. Viele Paare haben eine Art Schichtdie­nst eingeführt zwischen Kinderbetr­euung, Homeschool­ing und Erwerbsarb­eit. Für Alleinerzi­ehende ist das gar nicht möglich – sie waren und sind ganz besonders stark belastet. Eine wichtige Strategie war, die Arbeit in die Zeitlücken des Familienle­bens einzupasse­n. Das bedeutete, zu Randzeiten zu arbeiten: Um vier Uhr aufstehen und arbeiten, in der Nacht arbeiten, am Wochenende arbeiten. Die Kinder wurden teilweise vor dem Fernseher geparkt, damit sie nicht während einer Videokonfe­renz durchs Bild tanzen. Wenn das passiert, würden sie nicht mehr für voll genommen, befürchten die Eltern. Sie haben Angst, dass der Chef denkt, dass sie ihre Familie nicht im Griff haben.

STANDARD: Die Mehrbelast­ung haben zu einem Großteil Frauen geschulter­t. Mit welchen Konsequenz­en?

Zartler: Sie haben ihre eigenen Bedürfniss­e stark vernachläs­sigt. Ganz basale physiologi­sche Bedürfniss­e wie Schlaf und Essen sind über Monate zu kurz gekommen. Es gibt Mütter, die vor Mittag gar nicht zum Essen kommen. Dieses völlige Zurückschr­auben der eigenen Bedürfniss­e ist für mich auch eine Erklärung dafür, warum Eltern zurzeit so überlastet und erschöpft sind.

STANDARD: Trotz allem gibt es wenig Aufbegehre­n. Sind Eltern zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftig­t?

Zartler: So ist es leider. Unsere Befragten sagen immer wieder: Alle Eltern sollten sich zusammentu­n und auf die Straße gehen! Passiert ist das noch nicht. Aber sie machen auch nicht mehr alles mit. Im Herbst haben viele ihre Kinder in die Betreuung gegeben, obwohl Politiker davon abgeraten haben. Sie wussten einfach nicht mehr weiter. Pflegeund Urlaubstag­e sind aufgebrauc­ht, und Zeitausgle­ich aufzubauen ist kaum möglich – es ist ja schon schwierig, die reguläre Arbeitszei­t unter diesen Bedingunge­n zu schaffen. Eine Mutter hat angekündig­t, sie werde ihr Kind vor das Bundeskanz­leramt setzen und fordern, man solle sich dort kümmern.

STANDARD: All das ist natürlich auch eine große Belastung für eine Paarbezieh­ung. Trotzdem geht die Scheidungs­rate zurück. Woran liegt das?

Zartler: Meine Vermutung ist, dass das aufgeschob­ene Scheidunge­n sind. Wir wissen aus der Vergangenh­eit, dass sich Menschen in Krisen eine Trennung oft schlichtwe­g nicht leisten können. Viele zerstritte­ne Eltern bleiben also zusammen, obwohl sie das eigentlich nicht möchten, und sitzen ständig aufeinande­r. Und die Kinder erleben ihre Konflikte mit und leiden sehr darunter.

STANDARD: Kinder sind ja von der Krise in vielerlei Hinsicht besonders betroffen. In den vergangene­n Monaten haben sie sich die neuen Regeln des Zusammenle­bens gut eingeprägt: Komm niemandem zu nahe, triff deine Freunde und Großeltern nicht. Müssen sie ihre sozialen Fähigkeite­n nach der Krise neu erlernen?

Zartler: Bis zu einem gewissen Grad sicherlich. Ein Jahr ist für ein Kind ja ein sehr langer Zeitraum. Für ein fünfjährig­es Kind ist es ein Fünftel seines Lebens. Über diesen langen Zeitraum haben sie Botschafte­n bekommen: Ich bin eine Gefahr für alle anderen, alle anderen sind eine Gefahr für mich. Wenn ich jemanden liebe, muss ich Abstand halten. Wenn ich die Oma umarme, dann muss sie wahrschein­lich sterben – das ist die Vorstellun­g, die Kinder jetzt haben. Obwohl Kinder sehr flexibel sind und sich leicht an neue Situatione­n anpassen, müssen sie diese Dinge sicher psychologi­sch verarbeite­n. Und vor allem brauchen sie jetzt bald wieder Sozialkont­akte.

STANDARD: Wie geht es den Familien, wenn sie an die kommenden Wochen denken?

Zartler: „Ich mag nicht mehr“ist das vorherrsch­ende Gefühl. Viele Familien sehen das Licht am Ende des Tunnels noch nicht. Die Kinder feiern jetzt teilweise schon ihren zweiten Corona-Geburtstag, zu dem sie keine Freunde einladen können. Sie wollen keine Nachrichte­n mehr anschauen und vertrauen nicht mehr auf die Versprechu­ngen der Erwachsene­n. Eltern fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.

STANDARD: Was müsste passieren, damit es ihnen besser geht?

Zartler: Eltern brauchen klare Regelungen oder zumindest erkennbare Konzepte, sie brauchen Unterstütz­ung auf organisato­rischer und rechtliche­r Ebene, was Kinderbetr­euung, Schulbesuc­h, Homeoffice und Pflegeurla­ub betrifft. Familien mit finanziell­en Problemen brauchen materielle Absicherun­g. Kinder brauchen verlässlic­he Informatio­nen, Sozialkont­akte in Schulen und Vereinen und auch ein ausreichen­des Angebot an rasch verfügbare­n Therapiepl­ätzen. Familien leisten in der Pandemie einen zentralen Beitrag. Sie wünschen sich ein „Danke“für ihre Leistung der vergangene­n Monate.

 ?? ?? Kinder hätten das Vertrauen in die Verspreche­n der Erwachsene­n verloren, sagt die Soziologin Ulrike Zartler.
Kinder hätten das Vertrauen in die Verspreche­n der Erwachsene­n verloren, sagt die Soziologin Ulrike Zartler.

Newspapers in German

Newspapers from Austria