Der Standard

Eine Frage des Restrisiko­s

Welche Corona-Schäden können wir als Gesellscha­ft akzeptiere­n? Eine Forschungs­initiative will einen möglichst breiten Konsens über Maßnahmen finden.

- Johannes Lau ➚ Die Umfrage läuft noch bis 30. 4. auf coronarisi­ko.lbg.ac.at

L ernen, mit dem Virus zu leben: Dieser Slogan ist in letzter Zeit immer wieder zu hören. Wie dieses Leben jedoch ganz konkret aussehen soll, wissen nach wie vor weder Expertenru­nden noch Politik und Bevölkerun­g. Da die Pandemie aber vermutlich nicht so schnell verschwind­en wird, müssen wir tatsächlic­h weiterhin lernen, damit umzugehen. Und das heißt auch, ein gewisses Risiko abzuschätz­en, sagt Harald Willschke, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts (LBI) Digital Health and Patient Safety in Wien: „Man muss davon ausgehen, dass man ein Risiko nie hundertpro­zentig ausschalte­n kann. Aber man kann damit arbeiten.“

So kann auch die Zahl der Covid-Infektione­n durch die derzeitige­n Maßnahmen reduziert werden, aber sie ganz auf null zu bringen ist so gut wie unmöglich — ein Restrisiko bleibt immer bestehen. Deshalb muss man nicht nur für sich selbst befinden, welche Gefahr man bereit ist zu ertragen. Gerade hinsichtli­ch eines effiziente­n Krisenmana­gements sollte das auch in einer demokratis­chen Gesellscha­ft gemeinscha­ftlich entschiede­n werden. Willschke, der auch leitender Oberarzt und Katastroph­enschutzbe­auftragter am Allgemeine­n Krankenhau­s Wien ist, betont: „Es ist wichtig, die Bevölkerun­g einzubinde­n.“

Die Menschen nur zu ermahnen, wie es seiner Meinung nach derzeit meist geschieht, sei für die Lösung dieser Krisensitu­ation kontraprod­uktiv: „Wir Mediziner können nicht immer nur mit dem Leichentuc­h wedeln und sagen, dass alles furchtbar ist. Daher sollte die Bevölkerun­g selbst das Restrisiko bestimmen und sagen, was sie bereit ist, zu tragen.“Eine einfache Antwort gebe es da aber nicht. Deshalb hat das LBI das Projekt „Reden Sie mit! Welche Corona-Risiken und Schäden können wir gemeinsam als Gesellscha­ft akzeptiere­n?“gestartet. Ziel ist es, per Crowdsourc­ing einen möglichst breiten Konsens zu eruieren, der dann die Grundlage für effiziente­re Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus bilden soll.

Die Sozialwiss­enschafter­in Elisabeth Klager leitet die LBI-Online-Studie, die noch bis Ende April läuft: „Wir wollen die Bevölkerun­g fragen, wo jeder individuel­l Gefahren erkennt, aber auch, wo es mehr Freiheiten braucht.“Die Fragen sind dafür bewusst weit gefasst, sagt Klager: „Alle können offen berichten, was ihnen auf dem Herzen liegt. Wir möchten einen Raum bieten, um Geschichte­n zu erzählen.“

Bei den meisten Personen, die das bereits getan haben, zeigt sich schon eine erste deutliche Tendenz: Gefordert werden vor allem schnellere Beschlüsse. Die zahlreiche­n Pressekonf­erenzen, auf denen bloß baldige Entscheidu­ngen verkündet werden, ermüden die Bevölkerun­g nur zusätzlich. Viele, die den Fragebogen beantworte­t haben, kritisiere­n ohnehin in erster Linie die Kommunikat­ion der Entscheidu­ngsträger: Auch wenn sich die große Mehrheit laut eigener Aussage an die verschärft­en Regeln halte, wird trotzdem beklagt, dass die Logik der Maßnahmen häufig immer noch nicht vernünftig nachvollzi­ehbar erklärt werde. Klager: „Die Menschen fühlen sich nicht abgeholt und nicht gehört. Wir merken: Viele freuen sich darüber, dass sie bei uns ihre Meinung äußern können.“

Gewichtung von Gefahren

Die Gewichtung der verschiede­nen Gefahren sieht schließlic­h in jedem Fall ganz anders aus: Zu den drei großen Risikofakt­oren Infektions­potenzial, psychische Belastung und wirtschaft­licher Schaden gesellen sich zahlreiche weitere Variablen. Daher wollen die Forschende­n auch viele Menschen aus allen Schichten erreichen, damit das Ergebnis weitgehend repräsenta­tiv ist. Dazu fehlt es laut Klager derzeit vor allem noch an Jugendlich­en, daher versuche man derzeit, diese Gruppe verstärkt anzusprech­en.

Eine weitere Frage, die gestellt wird, ist, bei welchen Personen und Berufen man ihren Expertenst­atus anerkennt: Wenig überrasche­nd nennt die Mehrheit die Bereiche Medizin, Mathematik und Ökonomie. Ausgehend von dem Stimmungsb­ild möchte das LBI auch das eigene Expertente­am, das letztlich konkrete Vorschläge für Entscheidu­ngsträger erarbeiten soll, erweitern: So ist etwa die Arbeitspsy­chologie noch nicht vertreten, was sich angeregt von den Befragten nun ändern soll. Eine Studientei­lnehmerin verwies zudem auf die Geschichts­wissenscha­ft, weil die den Verlauf zurücklieg­ender Pandemien genau kennt. Es bleibt zu hoffen, dass auch Corona irgendwann der Vergangenh­eit angehört.

 ?? ?? Corona bringt auch widersprüc­hliche Bilder. Viele Menschen beklagen, dass die Logik von Maßnahmen oft nicht nachvollzi­ehbar erklärt wird.
Corona bringt auch widersprüc­hliche Bilder. Viele Menschen beklagen, dass die Logik von Maßnahmen oft nicht nachvollzi­ehbar erklärt wird.

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