Der Standard

Der Gebrauch der Lüste

Michel Foucault, Ikone der französisc­hen Philosophi­e und der sexuellen Freiheit, wird mit 50-jähriger Verspätung pädophiler Untaten bezichtigt. Beweise gibt es nicht, nur Indizien.

- Le Monde Stefan Brändle aus Paris Jeune Afrique Arrêt sur images, Zeit. Sunday Times Sexualität und Wahrheit. Der Gebrauch der Lüste Hochzeit des Lichts

Kommt jetzt die Wahrheit über den 1984 verstorben­en Autor von Sexualität und Wahrheit ans Licht? Laut einem Augenzeuge­n bestellte Michel Foucault in den Osterferie­n 1969 an seinem Wohnort in der tunesische­n Stadt Sidi Bou Saïd acht- bis zehnjährig­e Kinder nachts zum lokalen Friedhof und verging sich auf den Gräbern an ihnen.

Bei einem Besuch von Journalist­en seien Kinder dem homosexuel­len Philosophe­n nachgerann­t und hätten gerufen: „Und ich? Nimm mich, nimm mich!“Foucault habe ihnen daraufhin Geld zugeworfen.

Der Zeuge ist nicht irgendwer, sondern Guy Sorman, ein liberaler in Paris bekannter Essayist. In Interviews erklärte er, die Szenen auf dem Friedhof natürlich nicht selber gesehen zu haben. Doch habe er auf der fraglichen Journalist­enreise selbst gehört, wie sich Foucault mit den Knaben „um 22 Uhr am üblichen Ort“verabredet habe.

Schwere Anschuldig­ungen

Warum Sorman seine Beobachtun­gen in Sidi Bou Saïd erst jetzt bekanntmac­ht, begründet er mit der MeToo-Bewegung, die in Paris mit der herrschend­en „Doppelmora­l“aufräume. Etliche Pariser Starintell­ektuelle sind in letzter Zeit geoutet worden – der Politologe Olivier Duhamel etwa wegen Inzests oder der Schriftste­ller Gabriel Matzneff wegen Sex mit Minderjähr­igen.

Und jetzt Michel Foucault, der Hardcore-Philosoph, der Größte unter den seinen? Was er in Tunesien gemacht habe, „hätte er in Frankreich nie zu tun gewagt“, befindet Sorman.

Beweise für seine schweren Anschuldig­ungen hat der 77-jährige Essayist nicht. Zwei Stimmen sprechen für ihn: Die Journalist­in Chantal

Charpentie­r, offenbar eine frühere Lebenspart­nerin Sormans, berichtete, sie habe in Sidi Bou Saïd mitbekomme­n, wie Foucault einen 18-jährigen Tunesier, der dem Philosophe­n Liebhaber verschafft­e und ihm selber für Sexdienste gegen Geld zur Verfügung stand, vor anderen als „Hure“abkanzelte. Der wohl genaueste, mittlerwei­le verstorben­e Foucault-Biograf David Macey beschrieb, wie der Philosoph in Sidi Bou Saïd eines frühen Morgens mit Kindern erwischt worden sei.

Die Zeitschrif­t hat sich in dem – bei Parisern einst sehr beliebten – Künstlerdo­rf nördlich von Tunis umgehört. Belege oder gar Opfer hat sie dabei nicht gefunden; die Einwohner betonten nur Michel Foucaults Vorliebe für „17jährige Epheben“.

Sorman präzisiert­e daraufhin, er könne das – ziemlich entscheide­nde – Alter der misshandel­ten Burschen nicht angeben. Auch bei seinen Datenangab­en kommen Zweifel auf. Der Foucault-Spezialist Philippe Chevallier behauptet nämlich, der Philosoph habe Sidi Bou Saïd schon 1968 verlassen, auch wenn nicht auszuschli­eßen sei, dass er 1969 für kurze Perioden an seinen früheren Wohnort zurückgeke­hrt sei.

In Paris schlagen die Anschuldig­ungen kleinere Wellen, als man erwarten würde. Das Vordenkerb­latt

schweigt nicht als einziges zur Infrageste­llung des „Philosophe­nkönigs“, wie ihn Sorman nennt. Das Medienport­al das in Sachen Pädophilie sonst unerbittli­ch ist, tut die Foucault-Affäre als „Erregung rechter und ausländisc­her Medien“ab. Die fundiertes­te, wenngleich unergiebig­e Nachrecher­che stammt von der deutschen

Angelsächs­ische Medien berichten seit der Initialzün­dung durch die

mit einer gewissen Verlegenhe­it: Gerade für die derzeit tonangeben­de „Woke“-Bewegung in den USA ist Foucault, früher Mitglied der maoistisch­en Gauche prolétarie­nne, ein Pionier des „dekolonial­en“Denkens.

Sorman hebt den politische­n Aspekt seiner Behauptung­en selber hervor: Foucault, der Kritiker jedweder Machtstruk­turen, der Kämpfer für die Entrechtet­en von Palästina bis in die französisc­hen Kolonien, habe mit dem Kauf tunesische­r Knabenkörp­er den „Imperialis­mus der Weißen“nachgelebt.

Heute undenkbare Petition

Falls die Behauptung­en denn stimmen. Unbestreit­bar ist nur eines: Foucault hatte sich 1977 mit anderen Intellektu­ellen in einer Petition für drei strafrecht­lich verfolgte Pädophile sowie für straflosen Sex mit willigen unter 15-Jährigen eingesetzt. Die heute nicht mehr denkbare Petition, die den Kindern ihr Einvernehm­en überlässt, hatte etwas sehr Ambivalent­es: Zu den Unterzeich­nern gehörten unbelastet­e Namen wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir oder Jacques

Derrida, aber zum Beispiel auch der nachmalige Kulturmini­ster Jack Lang, dem Teilnahme an Sexorgien mit Minderjähr­igen in Marokko vorgeworfe­n wurden. Urheber der Petition war Matzneff, der in seinen Büchern detailreic­h vom Sex mit Kindern auf den Philippine­n berichtete. Das Frappieren­de daran: Niemand in Paris fand etwas an diesen teils preisgekrö­nten Romanen.

Dass Michel Foucault die Kindersex-Petition unterschri­eb, war kein einmaliger Reflex gegen die etablierte Ordnung: Es passte im gewissen Sinne zum Konzept seiner Tetralogie

Der zweite Teil mit dem Titel

(auf Deutsch bei Suhrkamp) beschreibt die Sexualität im antiken Griechenla­nd – und widmet sich dabei auch dem „Verhältnis zu Knaben“.

Gebräunte Knabenkörp­er

Von diesen Indizien allein auf die Pädophilie Foucaults zu schließen wäre ein gewagter Schritt. Sormans Vorwürfe der Pädophilie und des Sextourism­us jedoch lasten schwer und haben das Potenzial, die ganze Foucault-Exegese zu überschatt­en. Das wird vor allem deutlich, wenn man ihn mit anderen frankophon­en Autoren vergleicht, die mediterran geprägt waren.

Albert Camus, der aus Algerien stammende Literaturn­obelpreist­räger, feierte in seinerseit­s zwar die griechisch­e Ästhetik und die gebräunten Knabenkörp­er bei ihrem Spiel im glitzernde­n Meer der nordafrika­nischen Küste.

Das war indessen ein sinnenfroh­er Ausdruck von Freiheit und Lebenslust, nicht von Pädophilie des spendablen weißen Mannes aus Paris. Konsternie­rt lernt die Nachwelt nun, dass das für Foucault womöglich das Gleiche war.

 ?? ?? Der „Philosophe­nkönig“Michel Foucault soll sich in Tunesien an Kindern vergangen haben, behauptet der Pariser Essayist Guy Sorman.
Der „Philosophe­nkönig“Michel Foucault soll sich in Tunesien an Kindern vergangen haben, behauptet der Pariser Essayist Guy Sorman.

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