Der Standard

Wenn man die Katastroph­e nicht wahrhaben will

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Die Lüge, die Verharmlos­ung, das Gerede und die Ausreden der Apparatsch­iks angesichts einer durch Nachlässig­keit, Ignoranz und blanken Zynismus hervorgeru­fenen Katastroph­e sind universell und zeitlos. Daran wurde man Montagaben­d erinnert, als der ORF eine exzellente, amerikanis­ch-britische Miniserie über Tschernoby­l brachte.

Demnächst sind es 35 Jahre, dass das Atomkraftw­erk im ukrainisch-weißrussis­chen Grenzgebie­t der damals noch existieren­den Sowjetunio­n in die Luft flog. Über die Zahl der Opfer wird heute noch gestritten. Offiziell werden ein paar Dutzend Opfer der immensen Direktstra­hlung vor Ort angegeben, dazu ein paar Tausend als Spätfolge. Wahrschein­lich sind es aber viel mehr. Österreich war eines der Länder, die von der radioaktiv­en Wolke, die sich in der Folge über halb Europa ausbreitet­e, am stärksten betroffen wurden.

Schuld war die ungewöhnli­che Bauweise des sogenannte­n Graphitrea­ktors, aber vor allem die systemisch­e Verantwort­ungslosigk­eit einer arroganten TechnoElit­e – und die systemisch­e Indolenz der Verwaltung­s- und Politik-Eliten, die das Unleugbare zunächst ganz zu leugnen, dann zu verharmlos­en und zu vertuschen suchten.

Die Mini-Serie ist exzellent bei der eindringli­chen Zeichnung der damaligen sowjetisch­en Lebenswelt bis hinunter zur Innenarchi­tektur (gedreht wurde hauptsächl­ich in Litauen) wie bei der Darstellun­g der Mentalität des Homo sovieticus: beschränkt­e Parteifunk­tionäre, sture Militärs, die zaghafte Zweifel mit Lenin-Zitaten niederbrül­len, feige Wissenscha­fter, aber auch das „einfache Volk“, das voll Ergebenhei­t mit sich umspringen lässt.

Allerdings lehrt uns derzeit die Corona-Pandemie, dass Ignoranz und Indolenz nicht auf ein spätsowjet­isches Diktatursy­stem beschränkt sein müssen. Auch in den heutigen Demokratie­n gibt es genügend, die von einer „kleinen Grippe“reden, und die Vertreter der Tiroler Seilbahn- und anderer Lobbys, die wir uns anhören müssen, klingen nicht viel anders als die Beschwicht­iger und Vertuscher in der sowjetisch­en Machtstruk­tur.

Als vor 35 Jahren in der ZiB 2 ein Vertreter der Atomlobby interviewt wurde, faselte er auch etwas von „zwei Todesopfer­n“daher. Der damalige Gesundheit­sminister Franz Kreuzer hielt den Maiaufmars­ch der SPÖ für durchführb­ar, obwohl es in der Nacht geregnet hatte.

Eine Gesellscha­ft wie die unsere, mit halbwegs funktionie­renden demokratis­chen Mechanisme­n, einer letztlich freien Presse, mit kritischen Wissenscha­ftern und einer viel besseren öffentlich­en Diskussion­smöglichke­it, ist mit den spätsowjet­ischen Zuständen nicht zu vergleiche­n. Aber dennoch registrier­en wir schon jetzt im Zusammenha­ng mit Corona teils unehrliche bis verblendet­e Informatio­n der Regierung und der sonstigen Autoritäte­n, aber auch blanken Irrational­ismus, Verschwöru­ngstheorie­n und Realitätsv­erweigerun­g bei einer starken Minderheit der Bevölkerun­g. Der Kanzler erzählte uns erst kürzlich etwas von den „letzten Metern der Pandemie“, der zurückgetr­etene Gesundheit­sminister wollte im Herbst nicht an eine „zweite Welle“glauben.

Es gibt so etwas wie ein institutio­nelles Nichtwahrh­abenwollen. Auch heute, auch bei uns. hans.rauscher@derStandar­d.at

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