Allianz in Sachen Afghanistan-Rückzug
US-Präsident Joe Biden will die verbliebenen amerikanischen Armeeangehörigen endgültig aus Afghanistan abziehen. Zieldatum ist der 11. September, genau 20 Jahre nach den Terroranschlägen auf New York und Washington.
Persönliche Treffen sind ja derzeit eher eine Seltenheit. Diese beiden trafen einander noch dazu erstmals. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin (links) und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg traten am Mittwoch in Brüssel gemeinsam vor die Medien. Tags zuvor hatten die USA ihren Rückzug aus Afghanistan mit 11. September 2021, exakt dem 20. Jahrestag der Terroranschläge auf New York und Washington, angekündigt. Die Nato-Partner einigten sich am Mittwoch darauf, es den USA gleichzutun.
Es ist ein Abschied ohne Wenn und Aber, verbunden mit großer Symbolik. Spätestens am 11. September, exakt 20 Jahre nach den Terroranschlägen auf New York und Washington, soll er beendet sein, der längste Krieg in der US-Geschichte. Nach intensiven Beratungen im Kreis seines Sicherheitskabinetts hat Joe Biden entschieden, den Abzug nicht an Vorbedingungen zu knüpfen. Mit anderen Worten: An dem Datum soll nicht mehr gerüttelt werden, was auch immer in Kabul, Kandahar oder Kundus geschieht. Es ist, wenn man so will, in Stein gemeißelt.
Simpel formuliert, hat der US-Präsident den Glauben verloren, mit der Militärpräsenz am Hindukusch noch etwas bewirken zu können. Er will nicht mehr abwarten, ob sich die Regierung in Kabul und die Taliban doch noch auf eine Waffenruhe und Modalitäten der Machtteilung verständigen können. Gespräche zwischen beiden Seiten, im September in Katar begonnen, haben bislang nichts Zählbares erbracht. Ob sie je zu belastbaren Kompromissen führen, darauf möchte im Weißen Haus niemand wetten. Angesichts der vielen Unbekannten hat Biden die Reißleine gezogen.
Immer neue Verschiebung
Würde man den Rückzug von einer innerafghanischen Einigung abhängig machen, glaubt er, würde man ihn immer wieder aufs Neue verschieben. Einer seiner Berater hat das, noch bevor der Präsident am Mittwoch sein Konzept erläuterte, schnörkellos auf den Punkt gebracht: Ein an Bedingungen geknüpfter Abzug wäre „ein Rezept, um für immer in Afghanistan zu bleiben“. Seit zwei Dekaden rede man nun schon von Voraussetzungen, die erfüllt sein müssten, bevor man die „Boys in Uniform“nach Hause holen könne. Im Grunde laufe es nur darauf hinaus, die Entscheidung bis in alle Ewigkeit zu vertagen.
Das klingt kaum anders, als es unter Donald Trump geklungen hatte. Der sprach im Wahlkampf von Amerikas „endlosen Kriegen“, unter die es einen Schlussstrich zu ziehen gelte. Gemäß dem Deal, den Trumps Emissäre mit den Taliban schlossen, sollten sämtliche GIs das Land bis zum 1. Mai verlassen. Unter Biden hatte es zunächst den Anschein, als wollte man das alles noch einmal gründlich überdenken. Generäle meldeten Widerspruch an. In Kabul das Feld zu räumen, warnten sie, würde die Terrorgefahr, die zu bannen man einst einmarschiert sei, erneut heraufbeschwören. Ein überhasteter Rückzug würde den Taliban den Weg zurück an die Macht ebnen, angesichts der Vorgeschichte eine bittere Ironie. Die Strategiedebatte haben die Generäle verloren – angesichts der Vorgeschichte keine allzu große Überraschung.
Biden war nie ein Fan des Einsatzes am Hindukusch. Aber auch er hat bei internen Diskussionen den Kürzeren gezogen, im Jahr 2009, als Stellvertreter Barack Obamas. Es ging darum, in welchem Maße die Truppen aufgestockt werden sollten, um die erstarkenden Taliban in die Schranken zu weisen. Stanley McChrystal, seinerzeit Kommandeur des Afghanistan-Kontingents, forderte mindestens 40.000 zusätzliche Soldaten. Der Skeptiker Biden dagegen plädierte für gezielte Schläge, für Drohnenangriffe und Kommando-Operationen, für einen kleineren Fußabdruck anstelle flächendeckender Präsenz. Dem Journalisten Evan Osnos hat Obama kürzlich noch einmal erzählt, welche Rolle sein Vizepräsident damals spielte. „Joe hat mir geholfen, konsequent die Frage zu stellen, warum wir eigentlich dort sind.“Statt ideologische Debatten zu führen, was oft Übertreibungen oder mangelnde Präzision zur Folge habe, habe Biden wissen wollen, welche Ziele man mit welchen Ressourcen exakt erreichen wolle.
Bidens Wette
Am Ende stockte Obama, wenn auch halbherzig, die Truppe um 30.000 Soldaten auf – auf mehr als 100.000. Sein Vize hatte sich nicht durchsetzen können, doch was folgte, bestätigte ihn nur in seiner Skepsis. Auf lange Sicht änderte die kurzzeitige Offensive nämlich nichts am Comeback der Taliban. Wie, fragen Bidens Berater, soll ein bescheidenes Restkontingent, aktuell bestehend aus 2500 US-Militärs, erreichen, woran eine viel größere Streitmacht gescheitert ist?
Mitch McConnell gehört zu denen, die von einem schweren Fehler sprechen. Sich zurückzuziehen im Angesicht eines Feindes, den man noch nicht besiegt habe, warnt der republikanische Senator, bedeute eine Absage an Amerikas Führungsrolle. Die Taliban besiegen zu wollen, entgegnet das Weiße Haus, sei kein realistisches Ziel. Realistisch sei, sie künftig an Zusagen zu erinnern, nach denen sie weder AlKaida noch anderen Terrorgruppen ein Gastrecht einräumen werden. Und notfalls einzugreifen, falls die Miliz ihr Versprechen nicht hält. Wie Letzteres konkret aussehen soll, bleibt unklar. Es ist die große Wette, auf die sich Joe Biden einlässt.
Es gibt nicht viele Bereiche der US-Außenpolitik, in denen von einer Kontinuität im Übergang von Präsident Donald Trump zu seinem Nachfolger Joe Biden gesprochen werden kann. Afghanistan ist so ein Ausnahmefall. Selbst der von Trump ernannte Sonderbeauftragte Zalmay Khalilzad wurde in seiner Funktion belassen. Khalilzad ist in seinem Bemühen, eine Machtteilung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban zu verhandeln, gerade wieder einmal in einer Sackgasse gelandet; eine von ihm vorgeschlagene Interimsregierung wurde abgelehnt. Auch andere Initiativen, wie die für den 24. April einberufene Konferenz in Istanbul unter Uno-Ägide, sind praktisch aussichtslos. Die Taliban werden sie boykottieren.
Und Biden zieht nun den Stecker, sogar im Wissen, dass die Taliban nur darauf warten. War der von Trump versprochene Termin für den Abzug aller US-Soldaten der 1. Mai, so nennt Biden den zwanzigsten Jahrestag von 9/11, also ein paar Monate später. Die Terroranschläge in New York und Washington am 11. September 2001 waren der Auslöser für die US-Intervention in Afghanistan, wo die herrschenden Taliban die Terrororganisation Al-Kaida mit ihrem Führer Osama bin Laden beherbergten. Zwanzig Jahre danach wird der Afghanistan-Krieg beendet, ohne die gesteckten Ziele erreicht zu haben.
Der jetzige US-Präsident bricht mit dem bisherigen Ansatz, den Abzug zumindest nominell daran zu knüpfen, dass die afghanische Regierung einigermaßen stabilisiert ist. Das hatte Vermittler Khalilzad geholfen, einen gewissen Druck aufrechtzuerhalten. Biden hebt diese Bedingung auf: Das Kriegsende für die USA – und damit für alle beteiligten Nato-Staaten – kommt auch dann, wenn die Gefahr besteht, dass die Taliban wieder die ganze Macht in Afghanistan ergreifen.
Er will auch keine Antiterrortruppen dort lassen. Für viele Afghanen und Afghaninnen, die schon einmal unter radikalen Islamisten gelebt haben, sowie für alle Opfer und besonders die Angehörigen der Toten von zwanzig Jahren Krieg, amerikanische und andere, ist das ein sehr bitterer Moment.
Aber Biden will die Ära 9/11 abschließen. Der erstarrte „war on terror“ist ein Klotz am Bein eines Präsidenten, der die USPolitik strategisch neu ausrichten will. So düster die Prognosen für Afghanistan selbst sind, laut US-Analysten geht von dort in absehbarer Zeit keine direkte Gefahr für die USA aus. Ressourcen und Aufmerksamkeit werden nun woanders benötigt, vor allem in der Auseinandersetzung mit China.