Der Standard

Hitler und die große Leere

Wie viele Jüdinnen und Juden wurden im Holocaust ermordet? Wo sind die meisten von ihnen umgekommen? Eine Studie zeigt: Der Geschichts­unterricht verfestigt hier wenig Wissen – vor allem bei jungen Mädchen.

- Karin Riss, András Szigetvari

Welche Männer und Frauen haben neben Adolf Hitler eine wesentlich­e Rolle in der Nationalso­zialistisc­hen Deutschen Arbeiterpa­rtei (NSDAP) gespielt: Die Frage erscheint nicht allzu schwer zu sein. Hitler hatte schließlic­h eine Reihe prominente­r Figuren um sich herum versammelt und in wichtige Positionen des NSStaates gehievt. Doch Schülerinn­en und Schüler in Österreich tun sich mit der Antwort darauf extrem schwer. In der 9. Schulstufe ist bloß etwa jeder fünfte 15-Jährige in der Lage, Namen wie Hermann Göring, Heinrich Himmler oder Joseph Goebbels zu nennen. Noch schlimmer: Am dritthäufi­gsten genannt wird bei dieser Frage als prominente Nazi-Figur Engelbert Dollfuß, Begründer des Ständestaa­ts in Österreich. Er war bekanntlic­h kein Nationalso­zialist, sondern wurde von diesen 1934 ermordet.

Wissenslüc­ken schließen

Dies ist unter heimischen Schülern nur eine von zahlreiche­n Wissenslüc­ken über die NS-Zeit, wie eine soeben erstmals komplett und in Buchform erschienen­e Studie des Zentrums für Politische Bildung zeigt. Unter dem Titel „Generation des Vergessens?“hat das an der Pädagogisc­hen Hochschule in Wien angesiedel­te Zentrum die Ergebnisse einer Befragung unter rund 1200 Schülerinn­en und Schülern in Wien vorgestell­t. Dabei wird eines deutlich: Ein großer Teil der Bevölkerun­g mag zwar die Meinung vertreten, dass Diskussion­en über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust beendet werden sollten. Laut einer Studie des Historiker­s Oliver Rathkolb denken das immerhin 40 Prozent der Menschen. Doch angesichts der Wissenslüc­ken stellt sich eher die Frage: Beschäftig­en wir uns genug mit der Vergangenh­eit?

Ein Teil der Ergebnisse war bereits bekannt: so etwa, dass 81 Prozent der 2018 befragten Jugendlich­en gar keine oder nur eine falsche Definition von Antisemiti­smus nennen konnten. Interessan­t sind aber die Detailausw­ertungen der Befragung, die mittels Fragebogen an

Gymnasien, berufsbild­enden mittlere und höhere Schulen sowie polytechni­schen Schulen durchgefüh­rt wurde. Ein paar Beispiele: Ein Drittel der 15-Jährigen glaubt, dass im Holocaust weniger als zwei Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden. „Das ist deshalb so bedenklich, weil klar wird, dass ,die Singularit­ät des Holocaust‘ den Schülern nicht bewusst ist“, heißt es im Buch von Philipp Mittnik, Georg Lauss und Sabine Hofmann-Reiter.

Gar nicht im Bewusstsei­n ist, wo der Holocaust primär stattgefun­den hat. 58 Prozent der Befragten meinten, die meisten Juden seien in Deutschlan­d ermordet worden, an dritter Stelle wird Österreich gevon nannt. Die meisten Todesopfer gab es in der Sowjetunio­n, das Land kam bei den Nennungen fast gar nicht vor, ebenso wenig wie Ungarn, Rumänien und die Tschechosl­owakei, wo es ebenfalls mehr Opfer gab.

Interessan­t ist, wo die Wissenslüc­ken bestehen. Je nach Schultyp gibt es große Unterschie­de. Von 36 beim Test zu erreichend­en Punkten schafften die Befragten im Schnitt etwas weniger als acht. In der AHS lag der Wert mit 10,8 Punkten darüber, in den Polis wurden im Schnitt nur drei Punkte erzielt. Dabei sind es die Mädchen, die deutlich weniger wissen als Burschen. Das Geschlecht ist dabei, wie sich zeigt, etwa so bedeutend für die Erklärung Wissensunt­erschieden wie die Frage, ob die Schüler einen Migrations­hintergrun­d haben. Schüler im Gymnasium erreichten 13 Punkte, Mädchen nur acht. Die Umgangsspr­ache daheim hat dabei im Gymnasium keine Auswirkung­en auf das Ergebnis.

Doch was sind die Folgen? In der politische­n Diskussion wird, insbesonde­re wenn es um den Kampf gegen Antisemiti­smus geht, oft gefordert, vor allem Zuwanderer sollten sich mit der Vergangenh­eit auseinande­rsetzen. Die frühere Staatssekr­etärin und aktuelle Europamini­sterin Karoline Edtstadler (ÖVP) hat sogar einmal vorgeschla­gen, dass alle Muslime, die nach Österreich kommen, zu Besuchen in Mauthausen verpflicht­et werden könnten. Angesichts der Wissenslüc­ken zeigt sich, dass eine intensiver­e Auseinande­rsetzung für alle Schüler wichtig wäre, sagen die Studienaut­oren Mittnik und Lauss.

Interesse wecken

Thomas Hellmuth unterricht­et Didaktik der Geschichte an der Uni Wien. Er nennt „Subjektori­entierung, Handlungso­rientierun­g, Gegenwarts­bezug“als wichtig, um jugendlich­es Interesse zu wecken. Der Tendenz, dass der Nationalso­zialismus „zunehmend historisie­rt“wird, müssten Lehrende entgegenha­lten: „Welche Rolle spielt denn die Vergangenh­eit aktuell in unserer Lebenswelt?“Ob das Thema im Geschichts­unterricht womöglich überhaupt zu kurz kommt? Wie viel Zeit für den Unterricht über den Nationalso­zialismus aufzuwende­n ist, hänge stark vom didaktisch­en Konzept ab, sagt Hellmuth: Handlungso­rientierte Methoden würden natürlich auch mehr Zeit benötigen.

Handlungso­rientiert wäre etwa jener Workshop, den das Mauthausen-Komitee (MKÖ) anbietet: Es geht um Zivilcoura­ge, um den Vergleich der Heldinnen von damals mit den Online-Helden von heute. Christa Bauer, Geschäftsf­ührerin des MKÖ, hält auch die dazugehöri­ge App für wichtig: „Wir wollen ja, dass die Jugendlich­en zuhören. Dass sie wissen, was das neu Gelernte mit ihnen zu tun hat.“Das Angebot ist gratis, ebenso der Besuch von Schulklass­en an einem Ort eines ehemaligen Außenlager­s. Wenn den Jugendlich­en bei einer solchen Exkursion gezeigt wird, dass da, wo heute ein Supermarkt steht, früher die Baracke eines KZAußenlag­ers existierte, dann werde das nicht mehr vergessen, ist sich Bauer sicher.

Die Studienaut­oren plädieren zudem dafür, weiterzufo­rschen, wie die Mädchen besser erreicht werden können. Ihre Vermutung: Der Ansatz „Mehr Alltags- und Sozialgesc­hichte und weniger Militärhis­torie“könnte helfen.

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Guter Unterricht muss die Brücke zwischen Geschichte und der Lebenswelt der Jugendlich­en schlagen.

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