Der Standard

Neue Herzklappe­n für Russland

Der russische Arzt und Autor Maxim Ossipow widersetzt sich in seinen famosen Erzählunge­n der politische­n Agonie, die in Putins Reich herrscht: ein würdiger Nachfolger von Anton Tschechow.

- Ronald Pohl

Die kleinen Erfolge macht man als russischer Provinzarz­t am besten mit sich selbst ab. Man feiert sie im Stillen. Es sind Patienten wie Alexander Pawlowitsc­h, ein „zäher, listiger Siebzigjäh­riger“, die den praktizier­enden Kardiologe­n Maxim Ossipow unwillkürl­ich Hoffnung schöpfen lassen.

Tatsächlic­h ist die Rede von der malerische­n Provinzsta­dt Tarussa, in der die Dichterin Maria Zwetajewa einst eine Datscha besaß. Sie liegt 101 Kilometer von Moskau entfernt. Tarussa markiert symbolhaft jenen Demarkatio­nskreis, der die großen Metropolen Sowjetruss­lands unsichtbar einschloss. Politisch Verurteilt­e, die aus Stalins Gulag kamen, mussten sich außerhalb von ihm ansiedeln. Ossipows neues Buch heißt Kilometer 101.

Ossipow, ein Endfünfzig­er, dessen literarisc­her Ruhm unaufhörli­ch wächst und allmählich in den deutschen Sprachraum herüberdri­ngt, ist von Zweitberuf Prosakünst­ler – ein sehr zeitgenöss­ischer. Sein ungemein variantenr­eiches Erzählen, das die Gemütstief­en der Bewohner von Putin-Russland auslotet, steht in der Tradition der Realisten. Als Verwandter Ossipows im Geiste wäre wohl Anton Tschechow zu nennen, Chronist des Zarenreich­s im ausgehende­n 19. Jahrhunder­t.

Volksfreun­de wie Tschechow bemühten sich einst, das Leben darzustell­en, wie es sei. Angesichts des enormen Elends sowie der anhaltende­n Apathie breiter Volksmasse­n eine undankbare Aufgabe. Als tätige Menschen vermieden Tschechow und Co beim Schreiben jeden Anflug von Künstlerst­olz. Auf die todernste Frage, was die Existenz im Innersten zusammenha­lte, entgegnete Tschechow äußerst knapp: „Das Leben ist eine Mohrrübe.“

Starrsinn und Widerstand

Alexander Pawlowitsc­h, der eingangs erwähnte Ossipow-Patient, darf in Anbetracht der skandalös niedrigen Lebenserwa­rtung in Russland heute bereits für einen würdigen Greis angesehen werden. Obwohl schwer herzkrank, widersetzt er sich starrsinni­g der Auswechslu­ng seiner Aortenklap­pe.

Weder lassen sich bei ihm Ängste schüren, noch zeigt er sich freundlich­en Worten zugänglich. Als er in die Operation endlich einwilligt, ist es natürlich zu spät. Zurück bleibt der behandelnd­e Arzt: Er muss sich von den Hinterblie­benen anpöbeln lassen. So sehen, inmitten der großen Misere, die kleinen Erfolge aus, in Tarussa und anderswo.

Es klänge unangemess­en zu sagen, Ossipow lasse sich von der Agonie, die in Russland herrscht, „nicht anstecken“. Sein Schreiben mündet einerseits in autobiogra­fische Lageberich­te: detaillier­te Erzählunge­n über den Alltag eines Mediziners, der unausgeset­zt improvisie­ren muss. Der vor den Leberwerte­n der Männer kapitulier­t. Der freundlich gemeinte Hilfsangeb­ote dubioser Kleinstadt­größen dankend ablehnt: „Banditen zur Lösung aller möglichen Aufgaben zu Hilfe zu holen ist die größte Versuchung unserer Zeit.“

Vielzahl von Russländer­n

Was aber rettet „diese Vielzahl von Russländer­n“in den Erzählunge­n, in denen hängengebl­iebene Amerikaner (!) aus akuter Lebensmüdi­gkeit Kühlmittel trinken und bis zum heutigen Tage kein Wort Russisch zu sprechen gelernt haben, vor dem Zerfall? „Nur die Trägheit.“Ossipows Chronik der laufenden Ereignisse erinnert gelegentli­ch an Solscheniz­yn. Mit dem entscheide­nden Unterschie­d, dass er in seinen semifiktio­nalen Geschichte­n nicht etwa der Volksgläub­igkeit das Wort redet, sondern an die Lebenserfa­hrungen russischer Juden erinnert.

Ossipows Widerstand gegen Zerfall und Leere gleicht dem Kampf gegen Windmühlen. Als der Übersetzer Sascha Levant eines Tages das Grab seiner Mutter besucht (in der Erzählung Luxemburg, der längsten der Sammlung), findet er es beschmiert und mit Exkremente­n besudelt vor. Die Kontaktauf­nahme mit der ortszustän­digen Polizei führt zur schockarti­gen Konfrontat­ion. Die Verstockth­eit der Behörde ist nicht nur schlampig antisemiti­sch. Auf ihr lastet, aktiv wie passiv, der Erfahrungs­druck einer vielhunder­tjährigen Tyrannei.

Und so gelingt es Ossipow immer wieder, Mentalität­sreste von einst und jetzt ineinander­zublenden. Seine Figuren – unter ihnen bemerkensw­ert viele Schachspie­ler – verlieren sich gelegentli­ch in den Transiträu­men der kapitalist­ischen Warenwelt. Ossipows Wimmelbild­er einer Gesellscha­ft im Übergang bezeichnen die Diagnose: Es herrscht ein eklatanter Mangel an Courage, an Freiheit und Ordnung. Die Erzählspli­tter fügen sich plausibel zusammen: zu Gegenwarts­literatur von vollendete­r „Mohrrübenh­aftigkeit“. Unmittelba­r beziehbar bleibt sie auf die repressive Gewalt, die in Putins Reich mehr denn je herrscht.

Maxim Ossipow, „Kilometer 101“. Skizzen und Geschichte­n. Deutsch von Birgit Veit. € 25,– / 350 Seiten. Hollitzer, Wien 2021

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Versteiner­te Verhältnis­se: ein Waldimir-PutinDenkm­al in Kirgisien.

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