Politchaos in Haiti nach Attentat auf Präsident
Zwei Premiers beanspruchen das Amt für sich – Das Parlament ist nicht existent, und die Gewalt steigt
Nur kurz nachdem ein 28-köpfiges Überfallkommando den haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse erschossen und seine Frau schwer verletzt hatte, beanspruchten zwei Männer das Amt des Premierministers für sich. Haitis Interimspremier Claude Joseph gab an, dass er die Befehlsgewalt über die Polizei und die Armee übernommen habe. Er habe einen „Belagerungsstatus“ausgerufen, was de facto bedeutet, dass er das Kriegsrecht über Haiti verhängt hat.
Der andere Premier, Ariel Henry, hätte diese Woche das Amt offiziell übernehmen sollen. Moïse hatte den Neurochirurgen noch zwei Tage vor seinem Tod zum Nachfolger von Joseph ernannt. Henry sagte nun in einem Zeitungsinterview, dass er sich als der rechtmäßige Premierminister sehe.
Der Kampf um das Amt im Schatten des Attentats ist ein weiteres Zeichen für die tiefe politische Krise, in der Haiti steckt. Selbst die Legitimation des getöteten Präsidenten war nicht geklärt. Es gab in den vergangenen Monaten heftige Proteste, weil die Opposition der Meinung war, dass Moïse seine Amtszeit bereits überschritten habe.
Experten und Botschafter amerikanischer Länder fürchten nun, dass sich die Gewaltspirale im ElfMillionen-Einwohner-Land schnell weiterdrehen könnte. Haitianer könnten massenhaft ihre Heimat verlassen, wie das bereits früher nach Naturkatastrophen oder politischen Krisen der Fall war.
Die haitianischen Sicherheitsbehörden jagen unterdessen die Attentäter des Präsidenten. Bis jetzt nahmen sie laut offiziellen Angaben 17 Verdächtige fest. Bei zwei von ihnen soll es sich bei um US-Bürger mit haitianischem Hintergrund handeln, bei den restlichen 15 um Kolumbianer.
Von den 28 Gesuchten handle es sich bei 26 um kolumbianische Staatsbürger, sagte der Chef der haitianischen Polizeibehörde, Leon Charles, am Donnerstag (Ortszeit) bei einer Pressekonferenz in Portau-Prince. Kolumbiens Verteidigungsminister Diego Molano gab an, dass mindestens sechs Mitglieder des Killerkommandos ehemalige Armeeangehörige gewesen seien. Die kolumbianischen Streitkräfte sowie die Polizei Kolumbiens werden bei den Ermittlungen helfen.
Fehlende Kontrolle
Um aus einer solchen politischen Pattsituation rund um das Amt des Premiers zu gelangen, gibt es in anderen Staaten weitere Institutionen, die Entscheidungen treffen. Doch das Parlament in Haiti ist de facto nicht existent. Von 30 Senatorensesseln sind nur noch zehn besetzt. Die Amtszeit der anderen ist einfach ausgelaufen. Das Gleiche ist der Fall im Unterhaus, dessen Amtsperiode im Vorjahr zu Ende gegangen ist.
Das Justizsystem ist ebenso wenig existent, da Richter regelmäßig streiken, um auf die gewaltgeladene Situation im Land aufmerksam zu machen, die ihnen teilweise die Arbeit unmöglich macht. Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs ist im Juni an Covid-19 gestorben.
Doch nicht nur die Besetzung des Premierministerpostens ist ein schwieriges Unterfangen, sondern auch die Vertretung des Präsidenten – denn in Haiti sind zwei Verfassungen in Kraft, die zwei Wege vorgeben, was zu tun ist, wenn ein Präsident im Amt stirbt. Die Version aus dem Jahr 1987 legt fest, dass der Vorsitzende des Obersten Gerichts die Geschäfte übernimmt – doch dieser ist tot. 2012 wurde die Verfassung abgeändert; und in dieser Version heißt es, dass der Präsident, wenn er sich im vierten Jahr seiner Amtszeit befand, durch einen Nachfolger ersetzt wird. Den muss das Parlament wählen, das es aber nicht gibt.
Denn erst Ende September soll die erste Runde der Wahlen stattfinden, im November schließlich die zweite. Daran möchte die Interimsregierung trotz Krise festhalten.