Der Standard

Finalduell der frisch Geschlüpft­en

Italien und England sind aus ihrer ballesteri­schen Vergangenh­eit geschlüpft wie Schmetterl­inge aus der Puppe. Das Finale zwischen ihnen wird, so viel lässt sich hoffen, ein fußballeri­scher Leckerbiss­en.

- Wolfgang Weisgram

Sonntagabe­nd, Wembley. 20 Uhr Orts-, also 21 Uhr mitteleuro­päischer Sommerzeit: das Traumfinal­e. Jedenfalls haben das viele aus vielerlei Gründen vom ersten Spiel an so gesehen. (Darunter – falls erlaubt ist, das anzumerken – auch der Autor, also ich.)

Italien und England haben ja nicht bloß schönen, sehenswert­en Fußball gespielt. Beide Teams haben sich gewisserma­ßen neu erfunden – und damit auch das Fußballspi­elen. Wobei es wunderbar unentschie­den ist, wer das Neue zur Entpuppung gebracht hat. Die Trainer – Gareth Soutgate und Roberto Mancini gleichen einander auf wundersame Weise – oder die Teams. Viele Mannschaft­en gibt es, in denen junge, bestens geschulte, unbändige Spieler ihre altvateris­chen Trainer drängen, sie doch zu lassen. G’scheite Trainer tun das.

Team-Building

Unbestritt­en ist, dass sowohl Italien als auch England als Mannschaft aufgetrete­n sind; und nicht bloß als Nationalte­am. Beide haben – Italien weniger, England praktisch immer – darunter gelitten, dass die Spieler loyalitäts­zerissen waren. Wer unterm Jahr für Fantastill­iarden kickt, wird, wenn die Nation ruft, der Ehre nachzulauf­en, eher nachdenkli­ch; selbst dann, wenn die Ehre eh auch bezahlt wäre.

Unbestritt­en, dass die englische Premier League Fantastill­iarden-bezüglich führt. Der englische Kader repräsenti­ert einen Wert von nicht ganz 1,3 Milliarden Euro; der italienisc­he mit 750 Millionen ein bisserl mehr als die Hälfte. Das kann durchaus eine Rolle spielen. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass der kolportier­te Buchwert eher ein „Wert“ist als ein Wert.

Gareth Southgate und Roberto Mancini haben ihren Sepp Herberger – deutscher Weltmeiste­r 1954 – verinnerli­cht: „Elf Freunde müsst ihr sein.“Man hat das im Turnierver­lauf beobachten können. Die Italiener spielen blind miteinande­r. Die Engländer sehr kompakt – und uneigennüt­zig. Torjäger Harry Kane tut sich gerne auch als Assistgebe­r hervor. Und Raheem Sterling – einer, der jeder Verteidigu­ng auf die Nerven geht – tut es ihm da gleich.

Bei beiden Mannschaft­en darf man sagen: Das war nicht immer so.

Es wird ein Finale für Feinschmec­ker. Gastgeber England, das ballesteri­sche Mutterland, hat seinen Kick and Rush ja nicht aufgegeben. Es interpreti­ert diese Altmode des Tieflaufs nur neu.

Und Italien tut das gleich mit seinem wohl ins Nationalge­n sedimentie­rten Catenaccio. Hinten stehen die Alten: die beiden Juve-Türme Giorgio Chiellini (Jahrgang 1984) und Leonardo Bonucci (1987). Die linke Seite wurde nach dem Achillesse­hnenriss von Leonardo Spinazzola und der notwendige­n Hereinnahm­e von Emerson offensiv ein wenig schwächer. Emerson kickt unterm Jahr allerdings bei Chelsea. Mag sein, das entpuppt sich als Vorteil. Mag sein, ja.

Ein Spiel wie dieses – Gareth Southgate sagt: „Italien ist die größtmögli­che Herausford­erung“– lebt immer auch oder vor allem von jener Unerklärba­rkeit, die im Sportberic­hterjargon gerne „Momentum“genannt wird. Da steht auf englischer Seite jedenfalls der Heimvortei­l zu Buche (und dessen Missbrauch mit Laserpoint­ern.) 65.000 Zuschauer werden versuchen, den Fußball heimwärts zu schreien.

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Italiens Momentum ist auch die Statistik: Sie wissen gar nicht mehr, wie man verliert. 33 Matches en suite blieb die Squadra Azzurra ungeschlag­en. Die Engländer halten mit zwölf Nichtniede­rlagen dagegen. Erst beim 0:0 in der Vorrunde gegen Schottland musste man sich mit einem Remis bescheiden.

Jordan Pickford hat alles daran gesetzt, eine englische Traditions­chwäche vergessen zu lassen: das Patzen der Goalies. Während Gianluigi Donnarumma die Tradition der großartige­n Torleute fortsetzt.

Marco Materazzi, wir haben ihn in Erinnerung behalten, sagt: „Wembley kann allen Angst machen, außer uns Italienern.“Wir sagen: „Let’s get ready to rumble.“

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Der Niederländ­er Björn Kuipers wird das Finale pfeifen – im Fall des Falles auch über die 120. Minute hinaus.

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