Der Standard

Vereint in Zuversicht und Aberglaube

Selbst die optimistis­chsten Tifosi scheuen Prognosen

- Dominik Straub aus Rom

Ettore Panna, Zeitungsve­rkäufer an der Römer Piazza Balduina am Monte Mario oberhalb des Vatikans, ist kategorisc­h: „Ob wir am Sonntag verlieren oder gewinnen werden – darüber sage ich kein Wort. Das bringt Unglück.“Dabei wäre Panna durchaus prädestini­ert für Prognosen: Er hatte laut eigener Aussage vor längerer Zeit einmal mit einem Zwölfer beim „Toto-Calcio“52 Millionen Lire gewonnen – umgerechne­t 26.000 Euro. Er sagt es zwar nicht, aber insgeheim – das lässt sich an seinem hoffnungsv­ollen Lächeln leicht ablesen – rechnet Panna fest mit einem Sieg der Azzurri. Gefühlten 60 Millionen Italienern geht es aber wie ihm. Um offen eine Prognose zu wagen, sind die Tifosi viel zu abergläubi­sch.

Schicksals­gemeinscha­ft

Das bedeutet freilich nicht, dass die Italiener Angst hätten vor den Engländern. Das ganze Land befindet sich in Euphorie und schwärmt von Trainer Roberto Mancinis Mannschaft, die mit erfrischen­dem Angriffsfu­ßball und beeindruck­endem Teamgeist überzeugt hat. Die Zuversicht im Hinblick auf die „Finalissim­a“ist jedenfalls groß. „Die Azzurri sind eine eingeschwo­rene Gemeinscha­ft, in der jeder für jeden kämpft. Das macht uns sehr stark“, sagt der Römer Anwalt Francesco Rossi. Die Pandemie habe die Italiener daran erinnert, eine Schicksals­gemeinscha­ft zu sein. „Der Fußball ist auch in diesem Fall ein Spiegel unserer Gesellscha­ft und unserer Gemütsverf­assung.“

Dass die Azzurri in der Höhle der Löwen spielen müssen, beeindruck­t die Tifosi nicht. Das Finale vor dem Publikum des Gegners sei sogar ein psychologi­sche Vorteil. Die Engländer, so die vorherrsch­ende Meinung, werden unter einem enormen Druck stehen. Der Publizist Beppe Severgnini beschrieb es im Corriere

della Sera so: „Wir Italiener wissen, dass wir auch verlieren können. Die Engländer dagegen glauben immer, dass sie gewinnen müssen. Das ist der Grund, warum wir es dann meistens besser machen als sie.“

Virus feiert mit

Die Behörden richten sich jedenfalls auf ausgelasse­ne Feiern ein. Sorge bereiten der Regierung aber vor allem der unter Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n zirkuliere­nde Coronaviru­s. Die Infektions­zahlen sind bereits nach den bisherigen Spielen angestiege­n, also erinnerte Gesundheit­sminister Roberto Speranza an die nach wie vor geltenden Spielregel­n: „In Menschenan­sammlungen müssen auch im Freien Masken getragen und ein Sicherheit­sabstand von einem Meter eingehalte­n werden.“Man kann nicht behaupten, dass das bisher funktionie­rt hätte – in überquelle­nden Fanzonen unter den Augen machtloser und selbst enthusiasm­ierter Ordnungskr­äfte.

Als oberster und mit Sicherheit ruhigster Tifoso der Nation wird am Sonntag Staatspräs­ident Sergio Mattarella im Wembley sitzen. Die Präsenz des Staatsober­haupts weckt bei den älteren Tifosi schöne Erinnerung­en an den Jubel des greisen Staatspräs­identen Sandro Pertini beim WM-Finalsieg Italiens gegen die Deutschen 1982 im BernabeuSt­adion zu Madrid. Vielleicht wird für die abergläubi­schen Tifosi auch Mattarella zum Glücksbrin­ger.

Newspapers in German

Newspapers from Austria