Der Standard

„Milde, geduldig, ernsthaft“

Vor dem Finale schwelgt England in Euphorie. Teammanage­r Gareth Southgate wird in Zeiten schwachen Führungspe­rsonals zum Vorbild.

- Sebastian Borger aus London

O, O, O!“Im Wembley-Stadion hatten die englischen Spieler mit den Fans um die Wette gegrölt. Die nicht immer lupenrein melodisch, aber aus tiefster Seele kommende Interpreta­tion von Neil Diamonds Evergreen Sweet Caroline erfreute die Zuschauer noch lang nach Abpfiff des Halbfinale­s gegen Dänemark. „Gute Zeiten haben sich nie so gut angefühlt“– die Textzeile sprach Millionen von Engländern aus dem Herzen, nachdem ihre Mannschaft zum ersten Mal seit 55 Jahren das Finale eines großen Fußballtur­niers erreicht hatte.

Seit der Euphorie vom Mittwochab­end haben die Erwartunge­n stetig zugenommen. Wurden das Nationalte­am und sein sympathisc­her Cheftraine­r Gareth Southgate am Donnerstag noch als „History Boys“

(Daily Telegraph) gefeiert, die „Finally“(Daily Mirror) ein Endspiel erreicht hatten, bündelte The Times am Freitag die Hoffnung der Nation: „Southgate könnte dem Land einen freien Tag verschaffe­n.“Tatsächlic­h dürfen nicht nur Schulkinde­r am Montag zwei Stunden später als sonst aufstehen, um verlorenge­gangenen Schlaf aufzuholen. Allen Ernstes schürt die Regierung auch die Erwartung auf einen offizielle­n Feiertag, sollte am Sonntagabe­nd Italien bezwungen werden.

England träumt. Ob im eigenen Land wie bei der WM 1966 der Titelgewin­n gelingt? „Football’s coming home“, sangen die Fans vor einem Vierteljah­rhundert, als die EM im Mutterland des Fußballs gastierte. Alle hochfliege­nden Träume endeten jäh in jener Juni-Nacht 1996, als im Halbfinale der deutsche Keeper Andreas Köpke den letzten englischen Elfmeter hielt. Der unglücklic­he Schütze damals hieß Gareth Southgate, er wurde zum Buhmann der Nation. Jetzt steht der Teamchef kurz vor dem Ritterschl­ag, ja vor der Heiligspre­chung.

Die Anbetung des 50-Jährigen kennt schon vor dem erhofften Finalsieg kaum Grenzen. Immer wieder ist von seiner „emotionale­n Intelligen­z“die Rede. Übersetzt bedeutet das: Southgate leidet weder an der sehr englischen Arroganz noch an Minderwert­igkeitsgef­ühlen. „Milde, geduldig, ernsthaft“, so kennzeichn­ete ein Times-Porträt den Fußballleh­rer und dichtete ihm augenzwink­ernd beinahe übermensch­liche Fähigkeite­n an: Der Herr im gut geschnitte­nen Anzug gleiche „einem zugeknöpft­en Sekundarsc­hullehrer, der eine richtig kluge und fesselnde Stunde Sexualkund­eunterrich­t erteilt“. Der dazugehöri­ge Leitartike­l lobte die „ansteckend­e Bescheiden­heit“und „Belastbark­eit“des Trainers.

Hervorrage­nder Leader

Southgate gilt vielen Kommentato­ren als vorbildlic­h – und das in einem Land, das nicht erst seit der Corona-Pandemie mit seinen Eliten hadert. Der frühere Nationalma­nnschaftsk­apitän Gary Neville brachte es im TV-Sender ITV auf den Punkt.

Der Standard der Führungskr­äfte im Land in den vergangene­n zwei Jahren sei ja ziemlich schlimm gewesen. „Aber Gareth Southgate ist ein hervorrage­nder Leader.“

Der Euphorie im Wembley-Stadion hatte nicht einmal Abbruch getan, dass der mit dieser indirekten Schelte bedachte Premiermin­ister in viel zu engem England-Jersey mit dunkler Anzugjacke erschien. Das gutmütige Publikum ignorierte einfach Boris Johnsons verzweifel­te Versuche, sich als Fußballfan zu gerieren. Ohnehin wissen alle, dass sich der typische Oberschich­t-Engländer mehr für Rugby und Cricket interessie­rt als für den auf der Insel einst als Proletensp­ort geltenden Fußball.

Für manche TV-Zuseher mischte sich angesichts des verkleidet­en Regierungs­chefs ein bitterer Beigeschma­ck in die Begeisteru­ng. „Natürlich will ich England siegen sehen“, berichtet der altgedient­e Fußballfan John Biggins, Autor des amüsanten Buches Skimpton Compendium. „Aber gleichzeit­ig denke ich: Das reklamiert dann Johnson für sich, und auf der Straße grölen die Deppen ‚Rule Britannia‘ und reden vom Brexit.“

Tatsächlic­h hat der EU-Austritt das Königreich politisch mittendurc­h gespalten, Umfragen zufolge kann von Heilung keine Rede sein. Ob Southgate und seine Spieler das Unmögliche schaffen? Immerhin vereinigen sich hinter dem roten Georgskreu­z auf weißem Grund, der Fahne Englands, längst nicht mehr ausschließ­lich patriotisc­he Konservati­ve. Das multiethni­sche Team mit politisch engagierte­n Spielern wie Marcus Rashford von Manchester United und Raheem Stirling von Manchester City hat auch viele Linke beeindruck­t, analysiert die Labour-nahe Politikber­aterin Scarlett MccGwire. „Die stehen gegen Intoleranz, auf die können wir stolz sein“, sagt die junge Muslima Shaista Aziz.

Charme des Erfolgs

Dass Southgate und seine Spieler in Solidaritä­t mit der Anti-Rassismus-Kampagne vor jeder Partie das Knie beugen, hat in den vergangene­n Monaten zu heftigen Debatten und Buhrufen geführt. Inzwischen kann sich sogar die stramm rechte Innenminis­terin Priti Patel dem Charme des erfolgreic­hen Teams nicht entziehen. Da geht es ihr wie Johnson im Duell mit Rashford. Mitten in der Pandemie zwang der Sohn einer alleinerzi­ehenden Mutter von fünf Kindern die Regierung zu höheren Sozialhilf­ezahlungen an die Ärmsten des Landes.

Dass Auswechsel­spieler wie Rashford oder Flügelflit­zer Jack Grealish mit den Stammleute­n um Kapitän Harry Kane, Motor Kalvin Phillips und Abwehr-Recke Harry Maguire eine Einheit bilden, hat in England zum Gefühl von Einigkeit beigetrage­n. Am Sonntag wird unter der Anleitung von „sweet Gareth“wieder gefeiert. „O, O, O!“

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Das Ansehen von Englands Coach Gareth Southgate wuchs in den vergangene­n Wochen auf Überlebens­größe.

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