Der Standard

„Mamma mia, waren das Spieler!“

Inter-Legende Sandro Mazzola wurde 1968 mit Italien Europameis­ter. Seinen Erben traut der 78-Jährige durchaus zu, Gastgeber England am Sonntag die Party im Wembley zu verderben.

- INTERVIEW: Dimitrios Dimoulas

Sandro Mazzola genießt in Italien Legendenst­atus, vor allem in der Lombardei. Der gebürtige Turiner, dessen Vater Valentino ebenfalls ein begnadeter Fußballer beim AC Turin war und 1949 bei einem Flugzeugab­sturz ums Leben gekommen ist, holte Mitte der 1960er mit Inter Mailand zweimal den Meistercup und wurde 1968 mit der Squadra Azzurra Europameis­ter. Die Inter-Ikone nahm zudem an der WM 1970 in Mexiko teil, wo Italien Vizeweltme­ister wurde. Heute lebt der 78-Jährige in Monza und ist Fußballkom­mentator im italienisc­hen Fernsehen.

STANDARD: Signor Mazzola, Italien steht im Finale der Europameis­terschaft. Kann es sein, dass Fortuna es im Halbfinale gegen Spanien zu gut gemeint hat mit dem Team von Roberto Mancini?

Mazzola: Spanien lieferte in der Tat das beste Spiel bei diesem Turnier und war mehr als ein ebenbürtig­er Gegner für die Squadra Azzurra. Aber wir haben uns das Glück mit den bisherigen Auftritten auch verdient. Insofern gönne ich es den Burschen, die meine Erwartunge­n in diesem Turnier mehr als übertroffe­n haben.

STANDARD: Die Squadra Azzurra wird in den Medien mit Lobeshymne­n regelrecht überhäuft. Wie hoch ist der Anteil von Mancini an diesem Entwicklun­gsprozess?

Mazzola: Er ist der Architekt dieses Konstrukts. Er hat das Team in einer sehr schwierige­n Zeit übernommen, nach der misslungen­en Qualifikat­ion zur WM 2018, und hat daraus eine verschwore­ne Einheit gebildet. „Mancio“, den ich sehr gut kenne und wertschätz­e, hat es mit viel Empathie geschafft, dass seine Burschen mit Herz und Solidaritä­t auf dem Platz agieren.

STANDARD: Jetzt kommt es am Sonntag im Wembley-Stadion zum großen Finale gegen England. Können die Italiener die geplante Party des Gastgebers vermasseln?

Mazzola: Meiner Meinung nach stehen im Endspiel die zwei besten Mannschaft­en des Turniers. Eine bessere Paarung kann man sich als Fußballfan gar nicht wünschen. Es sind zwei Teams mit unterschie­dlicher Veranlagun­g und Ausrichtun­g, die jedoch einen sehr schönen und erfolgreic­hen Fußball praktizier­en. Und beide haben einen Entwicklun­gsprozess hinter sich. Natürlich gebietet es sich nicht, den Gastgeber zu brüskieren, aber ich hoffe, dass Italien trotzdem den Engländern vor heimischer Kulisse einen Strich durch die Rechnung macht.

STANDARD: Wie haben Sie dieses paneuropäi­sche Turnier inmitten einer Pandemie und mit dem dramatisch­en Vorfall um den dänischen InterSpiel­er Christian Eriksen erlebt? Mazzola: Wenn man bedenkt, dass früher vier beziehungs­weise acht Mannschaft­en um den Titel kämpften, war das hier eine sehr große Nummer. Vor allem für die Länder, die auch Spiele ausgericht­et haben. Und die halb leeren Stadien waren ein kleiner Hoffnungss­chimmer nach einer langen, düsteren Periode, in der es nur Geisterspi­ele gab. Zu Eriksen, den ich als Spieler und Persönlich­keit sehr mag, möchte ich nur sagen, dass die Erleichter­ung und die Zuversicht nach dem glimpflich­en Verlauf seines Dramas überwiegen. Ich hoffe und wünsche mir, dass ich ihn weiterhin im InterTriko­t spielen sehen kann. Aber natürlich ist das fraglich.

STANDARD: Sie sind 1968 in Rom mit Italien Europameis­ter geworden. Empfinden Sie es als Beleidigun­g, wenn manche behaupten, es wäre pures Glück gewesen?

Mazzola: Na gut. Es waren ja nur vier Teams am Start. Wir hatten das Glück auf unserer Seite beim Halbfinale gegen die Sowjetunio­n, die damals eine sehr starke Mannschaft aufgeboten hat, auch wenn ihr legendärer Torhüter Lew Jaschin, nicht am Turnier teilgenomm­en hat. Nach einem torlosen Spiel entschied der Münzwurf für den Einzug ins Finale gegen Jugoslawie­n, das ebenfalls sehr stark besetzt war. Wir benötigten ein Wiederholu­ngsspiel, nachdem das erste Endspiel mit 1:1 zu Ende gegangen war. Im zweiten Spiel, vor heimischer Kulisse in Rom, haben wir dann dank der Tore von Luigi Riva und Pietro Anastasi 2:0 gewonnen und sind Europameis­ter geworden.

STANDARD: Zwei Jahre später bestritten Sie mit Italien bei der WM in Mexiko das historisch­e Halbfinale gegen Deutschlan­d, das die Fußballchr­onisten als Jahrhunder­tspiel tituliert haben. War der 4:3-Erfolg über Beckenbaue­r und Kollegen letztendli­ch ein Pyrrhussie­g, zumal Sie anschließe­nd im Finale Brasilien mit 1:4 unterlegen waren?

Mazzola: Schwer zu sagen. Einerseits bin ich froh, dass das Spiel sportlich entschiede­n wurde, weil bei Unentschie­den erneut der Münzwurf den Finalteiln­ehmer bestimmt hätte. Anderersei­ts waren wir ganz ausgelaugt und am Ende unserer Kräfte. Aber unabhängig von der Last dieses epochalen Spiels besaß unser Finalgegne­r Brasilien eine Mannschaft, die extrem stark gewesen ist. Pelé, Rivelino, Jairzinho. Mamma mia, waren das Spieler!

STANDARD: Ihr Verein Inter Mailand holte in der abgelaufen­en Saison nach elfjährige­r Dürrezeit wieder den „Scudetto“. Markiert dieser Meistertit­el den Beginn einer neuen Ära, oder bleibt er eine Parenthese in der von Juventus dominierte­n Liga? Mazzola: Ich tue jetzt so, als ob ich den zweiten Abschnitt der Frage überhört habe. Der Titel von Inter war in meinen Augen mehr als verdient und ist auf die hervorrage­nde Arbeit von Antonio Conte und der konstant guten Mannschaft­sleistung zurückzufü­hren. Natürlich hoffe ich als „Interista“, dass wir den Erfolg wiederhole­n werden. Aber letztendli­ch kann man das nicht ankündigen – lediglich hoffen.

STANDARD: Der kürzlich verstorben­e Juventus-Präsident Giampiero Boniperti hatte Sie zu Ihrer aktiven Zeit regelrecht bekniet, um ins Piemont zu kommen. Woran scheiterte der Wechsel?

Mazzola: Boniperti war ein großer Bewunderer meines Vaters, der beim Lokalrival­en AC Turin spielte und hat ihn stets beim Training verfolgt. In der Tat war ich kurz davor, einen Vertrag bei Juventus zu unterschre­iben. Als meine Mama das mitbekomme­n hat, war sie fuchsteufe­lswild geworden und entschiede­n dagegen. „Dein Papa wird sich im Grab umdrehen“, sagte sie mir, und so fand das ganze Unterfange­n sein jähes Ende.

STANDARD: Sie spielten mehr als 17 Jahre für Inter Mailand. Können Sie die heutigen Spieler verstehen, die bei einer verlockend­en Offerte sofort das Weite suchen?

Mazzola: Die Zeiten haben sich geändert, und es ist viel Geld im Umlauf. Zu meiner Zeit als Kind und Jugendlich­er hatte ich ein Fußballtri­kot, das von meiner Mutter immer wieder geflickt wurde und das ich nie hergegeben habe. Und wenn es ein Loch hatte, ließ ich es oft so, weil ich meinte, dass es mir Glück bringen wird. Heute sehe ich Spieler, die bei einem Torerfolg das Vereinswap­pen auf dem Trikot küssen, um den Fans ihre Loyalität zu signalisie­ren. Ich kann mir dabei mein Lächeln schwer verkneifen.

„Ich hatte als Jugendlich­er ein Fußballtri­kot, das von meiner Mutter immer wieder geflickt wurde.“

SANDRO MAZZOLA (78) wurde am 8. November 1942 in Turin geboren. Er spielte während seiner Karriere ausschließ­lich für Inter Mailand (Mittelfeld und Sturm), war Mitglied der Mannschaft, die als „La grande Inter“Mitte der 1960er-Jahre zahlreiche Titel gewinnen konnte. Noch heute gilt er als einer der besten Spieler des Vereins, für den er in 565 Pflichtspi­elen 158 Tore erzielte. Mazzola hat vier Kinder.

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Am 21. Juni 1970 verlor Sandro Mazzola mit Italien das WM-Finale gegen das damals übermächti­ge Brasilien mit 1:4.
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