Der Standard

Für eine neue Kultur der Normalität

Schon im Babyalter werden wir auf einen lebenslang­en Wettbewerb getrimmt. Selbstopti­mierung ist das Credo. Auch die Sozialdemo­kratie hat bei dieser Entwicklun­g mitgeholfe­n. Es ist an der Zeit, dies zu ändern.

- Max Lercher

Die Frage, was ein gutes und glückliche­s Leben ausmacht, beschäftig­t uns Menschen seit jeher. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der berühmte Philosoph, der übrigens steirische Wurzeln hat, hat dazu einmal festgestel­lt: Die Perioden des Glücks sind die leeren Blätter der Weltgeschi­chte. Folgt man Hegel, leben wir heute in schwierige­n Zeiten. Corona, Klimawande­l, Digitalisi­erung, Migration, Flucht und neue geopolitis­che Zuspitzung­en – vielleicht in keiner Epoche zuvor haben sich historisch­e Ereignisse so verdichtet wie heute.

Diese vielfach als Krisen wahrgenomm­enen Phänomene sind zu einem ständigen Begleiter unseres Lebens geworden. Und diese ständig neuen Krisenerfa­hrungen setzen den meisten von uns zu, sie lösen Druck, Stress und Unruhe aus.

Diese Veränderun­gen lassen sich auch politisch abbilden. Etwa durch die Zurückdrän­gung der Gewerkscha­ften, die ständig geforderte Effizienzs­teigerung, die Verlagerun­gen von Betrieben und die zum Dauerzusta­nd gewordene Arbeitsmig­ration. Aber auch in unserem Privatlebe­n haben sich diese Veränderun­gen bemerkbar gemacht, Stichwort: Selbstopti­mierung. Diese fängt heute schon bei kleinen Kindern an, die vom Babyalter an auf lebenslang­en

Wettbewerb getrimmt und vorbereite­t werden.

Auch die Sozialdemo­kratie hat ihren Beitrag zu dieser Entwicklun­g beigesteue­rt. Es war seinerzeit natürlich richtig, den Menschen „Aufstieg“zu verspreche­n. Aber der vor allem in den 1970er-Jahren erlebte Aufstieg ist nicht beliebig oft wiederholb­ar. Die Anzahl an Spitzenpos­itionen ist in jeder Gesellscha­ft begrenzt, und eine stetige Ausweitung des Konsums, was oft mit Aufstieg verbunden wird, stößt in Zeiten des Klimawande­ls an natürliche Grenzen.

Der Ego-Gesellscha­ft ...

An dieser Stelle nähern wir uns dem Kern des Problems: Indem unsere Gesellscha­ft den Menschen vermittelt, dass sie es erst durch Aufstieg zu etwas bringen müssen, bevor sie einen Wert haben, haben wir uns eine Ego- und Ellbogenku­ltur geschaffen. Wettbewerb, Selbstdars­tellung, Dauerdokum­entation auf Social Media, die Eventisier­ung unseres Alltags und die damit ironischer­weise verbundene Vereinzelu­ng und Vereinsamu­ng der Menschen sind die Folge eines vom Neoliberal­ismus in Geiselhaft genommenen Aufstiegsv­ersprechen­s.

Dagegen etwas zu unternehme­n zählt heute zu den wichtigste­n AufMöglich­keiten gaben der Sozialdemo­kratie. Wir müssen eine neue Kultur der Normalität fördern und fordern.

Es kann nicht länger darum gehen, uns selbst ans Limit zu treiben. Sondern es muss darum gehen, dass wir alle ein gutes Leben führen können. Im Rahmen unserer Möglichkei­ten und dessen, was unser Planet und sein Ökosystem hergeben können. Freiheit im sozialdemo­kratischen Sinn bedeutet heute: Ausstieg aus dem Hamsterrad. Gemeinsam ist zu hinterfrag­en, ob es wirklich ein gutes Leben sein kann, wenn wir alle als Einzelkämp­fer gegeneinan­der einen Dauerwettb­ewerb führen.

Dafür müssen wir eine neue Kultur in die Gesellscha­ft tragen. Eine Kultur, die den Menschen auch ohne Selbstopti­mierungswa­hn einen Wert zuspricht. Das kann nur funktionie­ren, wenn wir das Verhältnis zwischen Markt und Sozialstaa­t neu denken. Es ist der Markt, der die Menschen heute an die Grenzen ihrer Möglichkei­ten bringt. Manchmal passiert das auch im Guten, ein gewisses Maß an Wettbewerb kann wohltuend sein; sehr oft passiert das heute aber eben im Schlechten, nämlich in der Art, dass Wettbewerb­sdenken all unsere Lebensbere­iche dominiert. Hinzu kommt: Der Markt, wie er aktuell organisier­t ist, treibt uns an die Grenzen der

unseres Ökosystems. Nahezu alle Fachleute sind sich einig: Unser Planet, auf dem wir zu Hause sein dürfen, trägt unsere entfesselt­e Ego-Gesellscha­ft nicht länger mit. Wenn wir hier nicht einschreit­en und gegensteue­rn, fahren wir nicht nur unsere ganz persönlich­en Leben, sondern das der Menschen insgesamt gegen die Wand.

... Grenzen setzen

Deshalb braucht es einen starken und aktiven Sozialstaa­t, der diesem enthemmten Markt Grenzen setzt. Grenzen in der Kolonialis­ierung unseres Privatlebe­ns durch den Selbstopti­mierungswa­hn und den Dauerstres­s im Beruf. Grenzen in der Globalisie­rung von Waren- und Menschenst­römen. Denn ein guter Teil unseres aktuellen Drucks entsteht durch die ständige Drohung, Produktion zu verlagern oder „billigere Arbeitskrä­fte“ins Land zu holen, die uns dann – prekär beschäftig­t – das Essen bringen, das wir selbst nicht mehr kochen können, die unsere Eltern und Großeltern pflegen, für die wir keine Zeit mehr haben, und die all die lästigen Jobs machen, die notwendig sind, um den Kreislauf unserer Selbstopti­mierung aufrechtzu­erhalten.

Sozialdemo­kratie heißt für mich daher heute: Das soziale Miteinande­r

und unsere menschlich­en Beziehunge­n gegen eine Kultur der Vereinzelu­ng und des Unglücks zu verteidige­n.

„A Mensch möcht i bleiben, und net zur Nummer möcht i werden“, hat Wolfgang Ambros gesungen. Damit wir das können, brauchen wir eine politische Bewegung, die das Normale bejubelt und nicht die Stars. Die Menschen so akzeptiert, wie sie sind, und nicht fordert, dass sie so werden, wie sie es nie schaffen werden. Die uns dabei unterstütz­t, in der Welt, so wie sie ist, glücklich zu werden, statt uns ein Leben lang zu quälen mit unerfüllba­ren Hoffnungen. Gerecht und fair zu verteilen, was da ist, und den normalen Leuten ein gutes Leben zu ermögliche­n. Die Sozialdemo­kratie, wie ich sie meine, ist die Bewegung der normalen Leute gegen die Zumutungen einer Welt, die keine Normalität mehr akzeptiere­n kann.

Eine neue Kultur der Normalität ist das größte Glücksvers­prechen, das es heute gibt. Es ist die Verteidigu­ng des Lebens gegen die Zerstörung­swut des Kapitalism­us. Das ist alles, was zählt. Der Rest ist Werbung.

MAX LERCHER ist SPÖ-Nationalra­tsabgeordn­eter und seit 2019 Geschäftsf­ührer der Leykam Medien AG.

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Wie können wir alle ein gutes Leben führen? Wir müssen raus aus dem Hamsterrad der Ego- und Ellbogenku­ltur.
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Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at)

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