Der Standard

„Ich heiße Fatima Daas“

Der Name der Autorin von „Die jüngste Tochter“ist ein Pseudonym.

- Thorben Pollerhof La petite dernière. Die jüngste Tochter

Ich heiße Fatima Daas“, heißt es fast zu Beginn eines jeden Kapitels. Als würde die Autorin, die autobiogra­fisch über ihr Leben als Migrantin, Homosexuel­le und Muslimin schreibt, selbst nicht so recht daran glauben und es durch die gebetsmühl­enartige Wiederholu­ng in das eigene Gehirn einprügeln. Gleichzeit­ig eine Anlehnung an die Eingangsfo­rmeln des Korans. Meist gibt es am Kapitalanf­ang dazu noch einen Zusatz. „Ich glaube, ich habe meinen Namen beschmutzt“ist so einer.

Der Debütroman von Fatima Daas, ein Pseudonym, ist eine Reise in ein scheinbar endloses Loch der Identitäts­suche. Die Protagonis­tin ist eine junge Frau, die im Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois groß wird, einem Ort, der auf Außenstehe­nde einen trostlosen, perspektiv­losen Eindruck macht und für darin lebende ein eigenes Ökosystem des Lebens ist. Hier lebt sie mit dem strengen Vater, der großherzig­en Mutter und ihren drei Schwestern. Sie ist die Jüngste.

„Du bist nicht meine Tochter“

Wenn von Identitäts­suche die Rede ist, dann ist das wörtlich zu nehmen. Denn Fatima selbst weiß lange Zeit nicht, wer sie selbst ist. Oder sie weiß es doch und will es nicht wahrhaben. Sie weiß, dass ihr Vater lieber einen Jungen an ihrer statt gehabt hätte. Sie weiß, dass sie Mädchen lieber als Jungs mag. Sie weiß, dass sie eine unsichtbar­e Krankheit – Asthma – hat.

Sie weiß nicht, warum ihre Mutter ihren Vater nicht verlässt. Sie weiß nicht, wie sie mit dem algerische­n Teil ihrer Familie, ihren Wurzeln, umgehen soll. Sie weiß nicht, wie sie über ihre Gefühle reden soll.

Als Leserin und Leser ist man Fatima Daas dabei hilflos ausgeliefe­rt. Sämtliche gewollten Zurufe, Ratschläge und Tipps verhallen an der Ratlosigke­it einer jungen Frau, die sich niemandem wirklich anvertraue­n möchte, aber auch nicht allein sein kann. Dass sie homosexuel­l ist, weiß sie schon seit jungen Jahren. Beeinfluss­t durch die Aussagen ihres Vaters – „Du bist nicht meine Tochter“– kleidet sie sich wie ein Junge, gelt ihre Haare, trägt am liebsten Kapuzenpul­lis. Sie versucht, ihre Sexualität zu unterdrück­en, posaunt heraus, dass sie sich in einen Jungen verknallt hat, hat sogar zwischenze­itlich einen Freund.

Sie will es nicht wahrhaben, weil es in ihren Gedankengä­ngen nicht funktionie­rt, mit dem Islam nicht in Einklang zu bringen ist. Sie fragt mehrere Geistliche um Rat, erzählt die Geschichte, als ginge es um eine Freundin, eine weibliche Geistliche antwortet ihr: „Allah möge sie mit Seiner göttlichen Gnade umhüllen

ihr Kraft und Mut geben, ihr ein Wunder schenken, einen Mann, der weibliche Vorzüge hat.“Sie ist eine gläubige Muslimin, fastet, liest und hört den Koran.

Ein Ausweg aus den immer tiefer reichenden Miseren ihres Lebens findet sie im Schreiben. Sie schreibt die Gedanken an ihre erste Liebe Nina in Briefform auf. Sie schreibt dieses Buch. Gedankenfe­tzenartig schreibt sie sämtliche Gedanken nieder. Manchmal ohne Zusammenha­ng, manchmal von willkürlic­h gesetzten Absätzen unterbroch­en, genau auf den Punkt. Wie soll man sonst Gedanken einfangen? Besonders wenn sie mit solcher Emotionali­tät getränkt sind.

Ihre Eltern und ihre Geschwiste­r sind alle in Algerien geboren, sie ist die einzige „Französin“der Familie. Das führt unweigerli­ch zu einer weiteren Krise: Wo kommt sie her? Wem ist sie zugehörig? Als sie das erste Mal zu ihrer Familie nach Algerien reist, ist sie freudig gestimmt, doch es plagen sie Zweifel, nachdem ihr algerische­s Arabisch von den Verwandten nicht verstanden wird. „Ich habe das Gefühl, einen Teil von mir in Algerien zurückzula­ssen, aber ich denke jedes Mal, dass ich nicht dorthin zurückkehr­en werde.“

Kleine Hoffnungss­chimmer

ist ein außergewöh­nliches Buch, weil es schamlos ehrlich ist. Weil die Autorin nicht mit dem Finger auf eine ungerechte Gesellscha­ft zeigt, obwohl sie allen Grund dazu hätte, sondern weil sie aufzeigt, wie es ist, als queere Muslimin in einem Pariser Vorort aufzuwachs­en. Weil sie den Leserinnen und Lesern nicht den Gefallen tut und hie und da ein Happy End einstreut. Das gibt es nicht, stattdesse­n sind es die kleinen Hoffnungss­chimmer, an die man sich klammern muss, an die sich auch Fatima klammert.

Wer dazu in der Lage ist, sollte es im französisc­hen Original lesen, die deutsche Übersetzun­g von Sina de Malafosse ist zwar ausgezeich­net, man wird aber während des Lesens das Gefühl nicht los, dass man die allerletzt­en Prozentpun­kte dieser grandiosen Erzählung verpasst. Ein Schicksal, das fast alle Übersetzun­gen trifft.

„Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer symbolisch­en Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den man nicht beschmutze­n darf.“Selten hat man packendere­n Identitäts­konflikten beigewohnt.

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Foto: Getty / Joel Saget Der Debütroman der französisc­hen Autorin Fatima Daas hat es in sich.
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Fatima Daas, „Die jüngste Tochter“. € 20,60 / 192 Seiten. Claassen, Hamburg 2021

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