Viele Blicke auf die Weltmacht
Von Selbstisolierung und Globalisierung. Neue Bücher über China. A 4 & A 5
Wir sehen China ganz falsch.“Das sagte vor etwas mehr als zwölf Jahren der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt. In seinem letzten Lebensjahrzehnt – er starb 2015 – widmete er sich dem asiatischen Reich. Da war China seit etwas mehr als 30 Jahren auf einem Kurs, der sich fundamental von jenem unterschied, der im Halbjahrhundert davor unter Mao Tse-tung eingeschlagen worden war, inklusive der Millionen Menschen zu Tode bringenden politischen Vorgaben des „Großen Sprungs nach vorn“(1958–1961) und der verheerenden „Kulturrevolution“(1966–1976). Beide brachten die kommunistische Volksrepublik an den Abgrund des Zusammenbruchs.
Wenige Jahre später, unter Deng Xiaoping, erfolgte eine Kehrtwende. Und 25 Jahre später lautete das Zwischenergebnis: Volvo, Club Méditerranée, der Flughafen Frankfurt-Hahn, Weingüter im Bordeaux. Sie alle gehören chinesischen Firmen. Heute leben in Peking mehr Milliardäre als in New York. Von den 500 größten Unternehmen der Welt stammten vor einigen Jahren 115 aus China, mittlerweile sind es noch mehr. Im E-Commerce ist das Land führend, beim Bezahlen via Smartphone, bei EAutos, bei 5G. So eng ist mittlerweile der globale Handel verflochten und ein so großer Markt das Land mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern – USA: 328 Millionen –, dass die Direktiven der Administration Xi Jinping unmittelbar die Strategien von Daimler, Volkswagen, Google, Facebook und Apple beeinflussen.
Multiple Verwerfungen
Der Journalist Matthias Naß, seit 1983 in
Diensten der Zeit, kannte Schmidt gut, erlebte ihn aus der Nähe, war doch dieser nach seiner Demission als Regierungschef 1982 Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung geworden. Naß schreibt flüssig, seine Urteile sind hanseatisch distinguiert und wohlabgewogen. Ein guter Einstieg in Chinas Historie der vergangenen 40 Jahre, in dem es kaum noch einen Drachentanz gab, eher einen Drachen-Riesensprung, aus rückständigster Armut, Unterversorgung und industrieller Desolatheit in die Hypermoderne, ist sein Buch Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet.
Zur Sprache kommen darin auch die brutale, planvolle Verfolgung, Unterjochung und Masseninhaftierung ethnischer Minderheiten, das Garrotieren der bürgerlichen Freiheiten und Rechte in Hongkong. Bei Naß wird deutlich, wie sehr in den letzten zehn Jahren unter Xi Jinping ein Kurs zunehmender Überheblichkeit und eskalierender Antidiplomatie in der Pekinger Politik eingezogen ist. Das Ergebnis: Die Volksrepublik verfügt heute über ein Netzwerk von aus Not oder Naivität ihr wirtschaftlich verpflichteten schwachen Staaten, aber nicht über einen stärkeren Partner auf Augenhöhe. Es geund hört Mut dazu, als Nichtsinologe 4000 Jahre chinesische Geschichte abhandeln zu wollen. Oder ist es Hybris? Doch Michael Wood, Historiker, Professor für „Public History“in Manchester und Dokumentarfilmer, gelingt in The
Story of China auf stupende und erstaunlich lebendige Weise dies aufregende, aufklärerische Kunststück. Er schreibt abwechslungsreich, spannend, informiert und klug über die vielen Dynastien, die zahllosen Entwicklungen, multiplen Verwerfungen, über Expansion und Abschottung, Krieg und Imperialismus, Zerrissenheit und Dynamik, erstaunlich kurz fällt der Part ab 1949 aus.
Immer wieder zoomt Wood erhellend von Makro- auf Mikrohistorisches, auf das Alltagsleben von Arbeitern, Frauen, Bauern. Woods Porträt einer Zivilisation und deren Menschen ist ausgreifend und instruktiv. Vor allem wichtig: Denn kaum ein andres Land ist so wie China aus der langen Historie zu verstehen.
Rigide Perfektionierung
Weltmacht. Einmal Weltmacht. Immer Weltmacht. Heute Weltmacht. Das ist die kurze, reduktionistische These des in Peking lebenden US-Reporters Michael Schuman, der für das
Wall Street Journal und Time schreibt. Weltmacht ob seiner Erfindungsmacht, die sich in vier umstürzlerischen Innovationen niederschlug, in Papier, Kompass, Schwarzpulver und Buchdruck. In vielen Schleifen erzählt Schuman, nicht selten offensiv oberflächlich und eher auf ein US-amerikanisches Publikum schielend. Wer nicht allzu vertraut ist mit Chinas Geschichte, dem wird sich angesichts der erzählerischen Sprünge, die Schuman vor allem im letzten Drittel seines Buches Die ewige Supermacht. Eine chinesische Weltgeschichte macht, und der Lücken und Distanzen einiges nicht erschließen. Erstaunlich, dass dieses Buch ins Deutsche übersetzt worden ist und nicht das weitaus bessere von Wood.
Ein gänzlich anderes Kaliber ist Klaus Mühlhahns gelehrte, elegante Geschichte des chinesischen Imperiums seit der Qing-Dynastie, die ab der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis 1911, bis zu Pu Yi, dem letzten Herrscher „aller unter dem Himmel“, der mit zwei Jahren auf den Drachenthron gesetzt wurde, Marionette der Japaner war, nach 1949 „umerzogen“wurde und 1967 an Nierenkrebs starb, zwölf Kaiser stellte.
Anfangs irritiert, dass Mühlhahn, Präsident der privaten Zeppelin-Universität in Friedrichshafen am Bodensee, das moderne China mit der Eroberung durch die kriegerischen Mandschu beginnen lässt. Noch irritierender: dass er mit seiner voluminösen Darstellung eine „Institutionengeschichte“konzipiert hat. In den feindetaillierten Analysevordergrund schiebt er nämlich Institutionen und deren Adaptionskraft über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg. Das erlaubt es ihm, neue Akzente zu setzen, die einleuchten und Altes revisionistisch