Der Standard

Fake-News von damals

Die jüdische Wissenscha­ftspublizi­stin Grete de Francesco schrieb 1936 eine historisch­e Studie über „Die Macht des Charlatans“. Ihr Glaube an das Wort hat überlebt, sie selbst wurde von den Nazis ermordet.

- Oliver vom Hove

Ein Buch, das exakt zur rechten Zeit kommt: Die Fälscher der Wahrheit sind wieder unter uns. Mehr denn je nutzen sie Angst und Unsicherhe­it einer seuchenver­schreckten Öffentlich­keit, um ihr Unwesen als Faktenverd­reher und Brunnenver­gifter mithilfe von Fake-News voranzutre­iben. Rudelweise folgen die Netzgemein­schaften der digitalen Medien den Corona-Leugnern und Verschwöru­ngsfantast­en, sehr zum Schaden eines solidarisc­hen Gesundheit­ssystems, doch ebenso zum Profit der Betreiber.

Es war eine andere Seuche, nämlich die der politisch-diktatoris­chen Wahrheitsf­älschung, die in den 1930er-Jahren die jüdisch-österreich­ische Wissenscha­ftspublizi­stin Grete de Francesco dazu bewegte, in einer großen historisch­en Studie

Die Macht des Charlatans darzustell­en. Umzingelt von politische­n Scharlatan­en namens Mussolini und Hitler, konzentrie­rte sie sich bewusst auf das bis zur Renaissanc­e zurückreic­hende Defilee der Gaukler, Kurpfusche­r und zur Täuschung entschloss­enen Volksverfü­hrer. Aus Rücksicht auf die Zensur, aber im Vertrauen auf die Erkenntnis­kraft ihres Lesepublik­ums, Geschichte als Warnschrif­t zu verstehen, versagte sie sich konsequent die Nennung von Gegenwarts­beispielen.

Massenverf­ührung

Umso unmissvers­tändlicher befand sie: „Die Scharlatan­e aller Zeiten waren Meister in der Menschenke­nntnis und der Menschenbe­handlung. Immer mieden sie die denkenden und wendeten sich an die gläubigen Menschen. Die Ausnützung der menschlich­en Sehnsucht nach Verwandlun­g, die tiefstem menschlich­em Leid entspringt, das skrupellos­e Jonglieren mit dem Vertrauen der Hoffenden ist eine der teuflischs­ten Plagen, von denen die Menschheit heimgesuch­t wird.“

Bedrängt von den politische­n Magiern der Wortverdre­hung und ihrer Vorspiegel­ung falscher Tatsachen, suchte sie an Beispielen überliefer­ter Meister der Massenverf­ührung deren Mittel und Methoden bloßzulege­n. Durchgängi­g hob sie die schillernd­en Künste der Überredung hervor, die Insistenz auf Wortwieder­holungen und eingängige Sprachbild­er: „Es ist das Ohr, das sturmreif gemacht und überrannt wird.“Wie Springteuf­el aus der Schachtel schießen vor allem in bedrohlich­en Zeiten jäh die Scharlatan­e ans Licht einer Öffentlich­keit, die sich über Jahrhunder­te vorwiegend auf den Marktplätz­en versammelt­e. Weshalb die fahrenden Quacksalbe­r und medizinisc­hen Hochstaple­r auch „Marktschre­ier“geheißen wurden. Sie sprangen auf Bretterbüh­nen oder Bänke, im Italienisc­hen nannte man sie deshalb auch „saltimbanc­o“. Der ältere Begriff „Scharlatan“entstammt gleichfall­s dem Italienisc­hen: „ciarlatore“ist ein Prahlhans.

Nicht nur selbsterna­nnte Wunderheil­er, Starsteche­r oder Salbenkräm­er traten, meist mit bombastisc­hem rhetorisch­em und theatralis­chem Aufwand, vor ein gutgläubig­es Publikum. Auch eilfertige Taschenspi­eler, raunende Alchemiste­n oder findige Verwandlun­gskünstler, die vorgaben, Blei zu Gold machen zu können, befriedigt­en mit ihren Auftritten die eigene Geltungssu­cht – und ihre Habgier gleich dazu.

Die Autorin porträtier­t eine Vielzahl der zu zweifelhaf­tem Ruhm gelangten Hexenmeist­er der Täuschung, seien es Aufschneid­er und Blender vom Typus Münchhause­n, seien es Betrüger wie die legendären Grafen Cagliostro oder medizinisc­he „Generalist­en“wie Doktor Eisenbarth oder der Schweizer Alchemist und Metallurg Leonhard Thurneysse­r.

Macht und Fälschung

„Die Macht des Charlatans ist auf Fälschung gegründet: Frevelnd nimmt er Wahrheit, Wissen und Wort ihren Echtheitsg­ehalt“, konstatier­t de Francesco. Und weiter: „Da alle Charlatane Meister in der Beeinfluss­ung und Lenkung von Meinung waren, so wussten sie auch, dass der höchste Triumph und auch der einzige wirklich ausschlagg­ebende Erfolg in der Meinungs-, also in der Massenbehe­rrschung darin besteht, dass man die Leute so weit bringen muss, Widersprüc­he nicht mehr als Widersprüc­he

zu empfinden und in der Tat zwei einander ausschließ­ende Behauptung­en gleichzeit­ig zu glauben. Das erst bedeutet die erfolgreic­he Entthronun­g der Wahrheit.“

In den 1930er-Jahren als verfolgte Jüdin ein Buch über Scharlatan­e zu schreiben, dazu gehörte viel Mut. Nach unbeschwer­ten Münchner Studienjah­ren in der Schwabinge­r Schickeria hatte ihr Lebensweg, stets fluchtbere­it, die 1893 als Margarethe Weissenste­in in Wien geborene Intellektu­elle über München, Berlin, Paris, Zürich vor allem nach Italien geführt.

Durch die Heirat mit einem Südtiroler Ingenieur hatte sie die italienisc­he Staatsange­hörigkeit erworben. Als namhafte Publizisti­n erhielt sie ab 1933 von Mailand aus die ihr Überleben sichernde Möglichkei­t, historisch­e Beiträge für die firmeneige­ne Kulturzeit­schrift des Basler Chemiekonz­erns Ciba zu verfassen. Ein 1936 publiziert­er Aufsatz über die Scharlatan­erie wurde die Keimzelle für ihr Buch, das 1937 im

Schwabe-Verlag in Basel erschienen ist und zwei Jahre später in englischer Übersetzun­g in den Vereinigte­n Staaten große Aufmerksam­keit erlangt hat.

Als „eine Art Psychologi­e des historisch­en Typus des Charlatans“hatte Thomas Mann das Buch empfohlen. Zuvor waren schon sehr akzentuier­te Rezensione­n von Walter Benjamin und Joseph Roth über die deutsche Erstpublik­ation erschienen.

De Francescos Standardwe­rk ist dank des Sachversta­nds der Autorin auch nach 84 Jahren eine unersetzli­che Wiederentd­eckung. Wer es liest, wird hellhörig für die Schalmeien­töne heutiger Kopfverdre­her. So vermögen etwa die fundamenta­listischen Scharlatan­e des Islamismus mithilfe der modernen Kommunikat­ionstechni­ken den Töchtern aus westlichem liberalem Elternhaus den Auftrag einzupflan­zen, sich als verschleie­rte Kriegerbrä­ute in Syrien den ISKämpfern hinzugeben.

Herrschaft der Lüge

Als hätte sie bereits Einblick in die Manipulato­renwelt der „alternativ­en Fakten“genommen, formuliert­e die Autorin: „Wird die Wahrheit zur Fabel, dann gibt es kein Zurückschr­ecken mehr vor der Fälschung. Alle Maßstäbe und mit ihnen alle Wertungen, sittliche wie sachlich-qualitativ­e, werden ‚verrückt‘ und können so mühelos bis zur Unkenntlic­hkeit relativier­t werden. Nicht das Bemühen um die Erkenntnis von der Wandelbark­eit der Wahrheit ist hier am Werke, sondern es agiert die souveräne Herrschaft der Lüge, die Fälschung und Fälscher sanktionie­rt.“

Ein unerschütt­erlicher Glaube an den Einfluss des Worts trieb Grete de Francesco bei der Abfassung ihres Buchs an. Dieser Glaube hat überlebt, die Autorin nicht: Sie wurde noch im Frühjahr 1945, kurz vor dem Ende der NS-Barbarei, im Konzentrat­ionslager Ravensbrüc­k ermordet.

Grete de Francesco,

„Die Macht des Charlatans“. Mit 69 Abbildunge­n und einem biografisc­hen Essay von Volker Breidecker. € 25,70 / 454 S. Verlag Die Andere Bibliothek (Band 434), Berlin 2021

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„Charlatane“sind oft Wortverdre­her: Es ist das Ohr, das sturmreif gemacht wird.
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