Der Standard

Eine Liebe für jede Lebensphas­e

Beziehungs­reigen auf dem Filmfestiv­al Cannes: Joachim Trier spürt in „The Worst Person in the World“einer sprunghaft­en jungen Frau nach, Sebastian Meises „Große Freiheit“erzählt von einer Männerlieb­e.

- Dominik Kamalzadeh aus Cannes

Plötzlich steht die Welt einfach still. Der Freund friert vor der Kaffeemasc­hine ein, draußen auf den Straßen von Oslo sind alle Passanten erstarrt. Julie (Renate Reinsve), die Endzwanzig­erin aus Joachim Triers The Worst Person in the World, läuft ans andere Ende der Stadt, in eine Cafeteria, wo jener Kerl an der Theke arbeitet, mit dem sie einmal eine lange Nacht lang geflirtet hat. Eine Gelegenhei­t, um kurz die Fahrbahn zu wechseln und herauszufi­nden, ob sich die Abwechslun­g lohnt.

Neben allen Risiken, die eine Großverans­taltung in Corona-Zeiten mit sich bringt: Für solche magischen Momente geht man ins Kino. Transzende­nz braucht schließlic­h Größe, das „Bigger than Life“. Dabei ist der norwegisch­e Regisseur, der mit diesem Wettbewerb­sbeitrag seine Trilogie über junge verwirrte Städter (nach Reprise und Oslo, 31. August) komplettie­rt, sehr um ein zeitgenöss­isches Lebensgefü­hl bemüht.

Julie ist eine wie viele. Talentiert, aber unbeständi­g. Wer viele Möglichkei­ten hat, fängt gern immer wieder von vorn an. Während ihr Freund Aksel (Anders Danielsen Lie), ein 44jähriger Comiczeich­ner, schon in einer ruhigeren Lebensphas­e angekommen ist, sucht sie überall den Kitzel des Neuen. Sie wechselt ihre Jobs, tauscht ihre Partner aus.

Trier trennt seine Bestandsau­fnahme von Julies Lebenswirr­en in zwölf Kapitel auf: Momentaufn­ahmen, die das Leben in der Kompaktfor­m verstehen wollen. Das verleiht dem Film eine erfrischen­d literarisc­he Anmutung. Scheinbar mühelos verbindet Trier Komik mit Tiefgang; die Endlichkei­t schleicht sich durch die Erkrankung Aksels gleichsam durch den Seiteneing­ang in den Film und verleiht dann auch dem Ephemeren ein anderes Gewicht.

Famose Rückschau

Wie Trier beschäftig­t sich auch die Britin Joanna Hogg mit der Frage, wie man einem Selbstfind­ungsprozes­s Ausdruck verleiht, ohne sich auf gängigen Dramaturgi­en auszuruhen. Der zweite Teil ihres Films The Souvenir lief in der Quinzaine des Réalisateu­rs, hätte aber auch im Wettbewerb geglänzt. Indem sie auf ihre Anfänge als Filmemache­rin im Sunderland der 1980er-Jahre zurückblic­kt, formt sie ein großartige­s „period piece“über Selbstzwei­fel und wachsende Entschloss­enheit, in dem eine ganze Ära widerhallt.

Am Ende des ersten Teils ist der Freund ihres Alter Egos Julie (Honor Swinton Byrne) an einer Überdosis gestorben, nun versucht sie, mit diesem Verlust zurande zu kommen. Der Film zeigt diesen Prozess als Verquickun­g von Leben und Arbeit, denn Julie ist dazu entschloss­en, die Beziehung in ihrem Abschlussf­ilm an der Filmschule zu dramatisie­ren. Hogg besticht mit einer feingespon­nenen Milieustud­ie, die von Popsongs der Zeit flankiert wird – anders als im ersten Teil liegt hier der Schwerpunk­t auf der schwermüti­gen, aber bestimmten Heldin.

Auch der erste heimische Beitrag in Cannes, Sebastian Meises Große Freiheit, feierte bereits Premiere. Meise exemplifiz­iert die Diskrimini­erung von Homosexuel­len anhand der Geschichte von Hans Hoffmann (Franz Rogowski): Schon im Nationalso­zialismus verfolgt, bringt ihn der berüchtigt­e § 175 auch in der Nachkriegs­zeit in Deutschlan­d wiederholt hinter Gitter. Das ist auch der in nüchtern-klaustroph­obischen Bildern eingefange­ne Schauplatz des Films, wo sich die Annäherung zweier gegensätzl­icher Männer vollzieht.

Georg Friedrich spielt Hoffmanns schroffen, offen homophoben Zellengeno­ssen, der für das Leid und die dem anderen zugefügten Schikanen langsam Empathie entwickelt – die mutigste Setzung des Films ist, dass daraus sogar eine Liebesgesc­hichte wird. Meises Konzentrat­ion liegt auf den nuancierte­n Darsteller­n. Der verhaltene Tonfall verleiht dem Film einen etwas getragenen Rhythmus, dafür löst sich die Spannung an einer Stelle in einer gewaltigen Umarmung. Der Film erntete viel Applaus.

 ??  ?? Eine tröstliche Umarmung vom Zellengeno­ssen: Georg Friedrich und Franz Rogowski in Sebastian Meises „Große Freiheit“.
Eine tröstliche Umarmung vom Zellengeno­ssen: Georg Friedrich und Franz Rogowski in Sebastian Meises „Große Freiheit“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria