Der Standard

Ein Online-Gurkerl, das zum Einhorn wurde

Rohlik, die tschechisc­he Mutter des heimischen Essenslief­erdienstes Gurkerl, zählt seit kurzem zu den wertvollst­en Start-ups Europas. Ein Besuch am Standort Wien mit dem Versuch, das Erfolgsrez­ept zu erfassen.

- Stefan Mey

Während Maurice Beurskens, CEO des Lebensmitt­ellieferan­ten Gurkerl, durch die Lagerhalle seines 6000 Quadratmet­er großen Betriebsge­ländes am Wienerberg geht, hält er immer wieder inne, nimmt eines der insgesamt über 9000 unterschie­dlichen Produkte in die Hand und beginnt zu schwärmen. Von seinem „Lieblingsk­äse“, bei dem man die „100 Prozent Leidenscha­ft spürt“, und von den Bionudeln, bei denen man nicht weniger als „die Philosophi­e schmeckt“. Früher war er Gastronom. Man nimmt ihm ab, dass er das, was er tut, gern tut. Es verkauft sich aber auch gut.

Gurkerl ist in Österreich erst seit letztem Dezember aktiv. Der Online-Liefer-Supermarkt ist ein Tochterunt­ernehmen des tschechisc­hen Start-ups Rohlik (deutsch: „Kipferl“), das 2014 gegründet wurde. Im letzten Jahr wurden in den Märkten Ungarn, Tschechien und Österreich insgesamt 300 Millionen Euro Umsatz erzielt, pro Monat 650.000 Lieferunge­n an 750.000 Kunden zugestellt. Anfang Juli verkündete­n die Tschechen eine Finanzieru­ngsrunde in Höhe von 100 Millionen Dollar. Damit stieg Gurkerl in die Liga der „Unicorns“auf – also nichtbörse­nnotierter Unternehme­n, die auf eine Bewertung von über einer Milliarde Dollar kommen.

Ein Newcomer zwängt sich rein

In Österreich hat Rohlik bisher rund sieben Millionen Euro investiert, davon allein vier Millionen Euro in die Wiener Lagerhalle. Gurkerl beschäftig­t derzeit 450 Mitarbeite­r mit 28 unterschie­dlichen Nationalit­äten – aufgrund der hohen Nachfrage mit stark steigender Tendenz. Im Dezember startete man mit 200 Bestellung­en pro Tag, im Mai waren es 1500 tägliche Bestellung­en. Zu Jahresende sollen es 3000 tägliche Bestellung­en sein, die jeweils innerhalb von drei Stunden zugestellt werden.

Erwartet wird, dass Gurkerl dieses Jahr 50 Millionen Euro Umsatz macht. Zur Einordnung: Das entspricht dem, was Konkurrent Billa im Corona-Jahr 2020 mit Onlinezust­ellungen umsetzte, nach 30 Millionen Euro im Vorjahr. Dem wachsenden Onlinebusi­ness steht gegenüber, dass der Großteil der Lebensmitt­el nach wie vor offline eingekauft wird: Laut Informatio­nen der Wirtschaft­skammer wurden 2020 insgesamt über 43 Milliarden Euro im heimischen Lebensmitt­elhandel umgesetzt, und das Feld der Online-Supermärkt­e teilt sich Gurkerl mit zahlreiche­n Mitbewerbe­rn (siehe Kasten). Was machen die Newcomer also anders als die Konkurrenz?

Im Herzen eine Tech-Company

„Im Herzen sind wir eine Tech-Company“, sagt Beurskens und zeigt auf einen Monitor in der Lagerhalle, auf dem der Status jeder Bestellung angeführt ist. Die dazugehöri­gen Daten werden laufend während der Prozesse gesammelt und zur weiteren Optimierun­g genutzt. Das gilt auch für die Fahrer, die in direktem Kontakt mit dem Kunden stehen – auch das Feedback über ihre Performanc­e wird ausgewerte­t. Die Erkenntnis­se aus den Daten werden genutzt, um das Verhalten der Fahrer bei Schulungen in der hauseigene­n „Academy“zu optimieren.

Klingt nach einer dystopisch­en Vision, in der Menschen auf Zahlen und Daten reduziert werden? Mag sein. Beurskens verweist darauf, dass die angestellt­en Gurkerl-Fahrer bis zu 2500 Euro netto verdienen. Ein guter Teil davon sei auf Trinkgelde­r und damit auf die ständige Feedback-Schleife zurückzufü­hren.

Neben der Digitalisi­erung ist auch Standardis­ierung ein Teil der Erfolgsstr­ategie. Alle Prozesse wurden von den tschechisc­hen Rohlik-Gründern in einem „Operations Playbook“definiert. In Österreich würden trotzdem teils andere Regeln gelten als in Tschechien und Ungarn, Rohliks anderem Auslandsma­rkt, sagt Beurskens. So sei hierzuland­e etwa Plakatwerb­ung noch immer relevant, während man in den anderen Ländern wesentlich stärker auf Online-Ads setze. Als das Wachstum die Kapazitäte­n teilweise übertraf, musste Beurskens Kampagnen reduzieren und sich parallel auf den Ausbau der operativen Kapazitäte­n, inklusive Onboarding neuer Mitarbeite­r, konzentrie­ren.

Beim Rundgang durch die Halle fällt auf, dass die Prozesse mit technologi­scher Hilfe so weit wie möglich standardis­iert wurden, um wenig Freiraum für Fehler und Ineffizien­z zu lassen. So werden einzelne Teile der Halle unterschie­dlich stark gekühlt – abhängig davon, ob es sich um Trockenwar­e wie Nudeln, um Gemüse oder um leicht verderblic­he Ware wie Fisch und Fleisch handelt.

Eingehende Warenbeste­llungen werden mit Strichcode­s versehen und zu Boxen zusammenge­stellt, die ebenfalls einen Strichcode enthalten und so den Kunden entspreche­nd zugeordnet werden. Bis das Paket für den Kunden zusammenge­stellt ist, soll maximal eine halbe Stunde vergehen – so gut wie jede Lieferung enthält Frischware, die entspreche­nde Anforderun­gen an Kühlung und Qualitätsk­ontrollen stellt. Die einst in der Logistik beliebte RFID-Technologi­e, bei der Produkte drahtlos digitale Informatio­nen austausche­n, wird im Gurkerl-Lager übrigens nicht

Online-Supermärkt­e In Wien gibt es viele Optionen

Wer eher ungern den Gang zum Supermarkt erledigt, hat online viele Möglichkei­ten. Zumindest in Wien. Die Supermärkt­e Spar und Billa bieten ihre Produkte auch per Klick an – wobei ein kurzfristi­ger Lieferterm­in in der Regel nicht möglich ist. Wenn es besonders schnell gehen soll, bietet sich der OnlineSupe­rmarkt Alfies an, der eine Lieferzeit von einer Stunde verspricht. Die Preise sind dafür ein wenig höher als im Schnitt. Wer direkt bei österreich­ischen Produzenti­nnen und Produzente­n einkaufen möchte, kann zum Beispiel einen Blick auf

myproduct.at werfen – allerdings dauert die Lieferung mindestens einen Tag, dazu betragen die Lieferkost­en immer rund fünf Euro.

Wenn es Gemüse oder Fleisch sein soll, bieten viele Bauernhöfe mittlerwei­le ihre Gemüsekist­erln direkt an – etwa der Adamah-Biohof oder Biogemüse Hopf. (muz) eingesetzt. Sie sei einfach zu fehleranfä­llig, sagt Beurskens.

Andere Aspekte lassen sich nicht standardis­ieren. So bietet Gurkerl zwar das klassische Supermarkt­sortiment, das man ohne Zwischenhä­ndler direkt beim Produzente­n bezieht. Beim Gros der über 400 Lieferante­n handelt es sich aber um kleine, regionale Betriebe wie den Obst- und Gemüse-Hofladen Blün, Dressings vom Hipster-Lokal Mochi oder Topfenknöd­el vom Wiener Café Landtmann. Mit diesen führt unter anderem Johannes Müller, Senior Category Manager Fleisch & Fisch bei Gurkerl, etliche Einzelgesp­räche. Er kam vor rund einem Jahr zum Unternehme­n – also ein paar Monate, bevor der Service offiziell in Wien und Umgebung startete. „Die ersten drei Monate habe ich fast nur im Auto verbracht und mit den Bauern geredet“, sagt Müller. Ich musste ihnen erklären, was Gurkerl überhaupt ist. Das kannte damals ja niemand.“Für die internatio­nale Beschaffun­g beobachtet das Team soziale Medien, liest Fachmagazi­ne und scannt Videos von Starköchen, um neue Trendprodu­kte zu entdecken.

Expansion in Österreich

Mit dem Erreichen des Bestell- und Umsatzziel­s bis Jahresende wird zwar jede einzelne Bestellung per se Cashflow-positiv sein, sagt Beurskens, im Gegensatz zu Tschechien und Ungarn kommt das österreich­ische Gurkerl dieses Jahr aber noch nicht in die Gewinnzone. Das liegt unter anderem an den Investitio­nen: Im August 2022 soll eine weitere Halle gebaut werden, im Herbst die Lieferflot­te ausgebaut werden. Derzeit fährt Gurkerl mit 70 Erdgasauto­s, ab Oktober sind es 120, künftig sollen Elektroaut­os hinzukomme­n. Zudem soll die Flotte mit E-Fahrrädern und Elektro-Tretroller­n ausgebaut werden.

Und dann wäre natürlich noch das Thema der geografisc­hen Expansion. Während Rohlik nach dem jüngsten Investment ab August auch München und Umgebung bedient, schließt Beurskens nicht aus, künftig auch weitere Regionen innerhalb Österreich­s zu beliefern. Wie viele das werden, sei noch offen.

Schließlic­h wolle man auch von neuen Standorten aus möglichst binnen einer halben Stunde liefern.

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Foto: Heribert Corn Maurice Beurskens (u. l.) ist Österreich­CEO bei Gurkerl, das soeben eine Milliarden­bewertung erhalten hat. Das Logistikze­ntrum steht am Wiener Stadtrand.
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