Der Standard

CORONA-PANDEMIE Ein Corona-Cluster im Ibiza-U-Ausschuss nach einem Umtrunk, die Delta-Variante, ein Impfappell der Regierung und die große Frage: Wie wird der kommende Herbst?

- Oona Kroisleitn­er, Klaus Taschwer

Die Bundesregi­erung hält an weiteren Öffnungssc­hritten fest – auch wenn dem Kanzler klar ist, dass die Infektions­zahlen in den nächsten Wochen ansteigen werden. Modellrech­ner gehen wegen der Delta-Variante gar von einer vierten Welle aus. Doch wie schlimm kann diese angesichts des Impffortsc­hritts noch werden?

Aktuell sieht die Lage gut aus. Österreich liegt bei den SarsCoV-2-Neuinfekti­onen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 7,4 pro 100.000 im EU-Vergleich im besten Drittel. Zwar steigen aktuell die Infektions­zahlen wieder leicht an, und die ansteckend­ere Delta-Variante (früher: die „indischen“Variante 1.617.2) dürfte bereits mehr als zwei Drittel der Neuinfekti­onen ausmachen.

Dennoch hält die Bundesregi­erung am Lockerungs­fahrplan fest. Mit dem 22. Juli wird der Mund-Nasen-Schutz nur noch in den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln und den Geschäften des täglichen Bedarfs – etwa Supermärkt­en – verpflicht­end sein. Die Drei-G-Regel werde aber weiter erhalten bleiben, verkündete­n Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) und Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein (Grüne). Denn bereits im Sommer werden die Infektions­zahlen nach oben gehen, prognostiz­ierte Kurz, und im Herbst „sicherlich massiv ansteigen“. Immerhin: Der Herbst werde heuer anders gemanagt als jener 2020, versprach Mückstein.

Doch lässt sich überhaupt seriös abschätzen, wie sich das Infektions­geschehen in den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird? Können die Impfungen eine vierte Welle verhindern?

Vorsichtig­e Modellrech­ner

Anders als die Regierung sind die besten Modellrech­ner des Landes mit Prognosen zurückhalt­end. Weitgehend Einigkeit herrscht nur darüber, dass eine vierte Welle wahrschein­lich ist. Doch wann sie kommen und wie hoch sie ausfallen wird, das lassen auch die neuesten Empfehlung­en des Prognoseko­nsortiums offen. Ebenfalls keine konkrete Antwort gibt es auf die Frage, wie hoch die Infektions­zahlen sein können, ohne das Gesundheit­ssystem zu überforder­n.

Warum solche Vorhersage­n immer noch schwierig sind, erklärt Komplexitä­tsforscher Stefan Thurner (Med-Uni Wien) damit, dass für die Modellrech­nungen etliche Variablen zu berücksich­tigen sind, die selbst wieder mit einer ganzen Reihe von Unsicherhe­iten behaftet sind. „Je nachdem, welche Werte wir für diese Faktoren annehmen, kommen völlig unterschie­dliche Kurven heraus“, sagt der Präsident des Complexity Science Hub Vienna.

Komplexe Unwägbarke­iten

Was aber sind diese Faktoren? Beginnen wir aufgrund des eher warmen Wetters mit der Saisonalit­ät: Die Rolle des Wetters, der Temperatur, der UV-Strahlung und der Luftfeucht­igkeit auf das Pandemiege­schehen ist lange unterschät­zt worden. Eine der jüngsten Studien zu dem Thema schätzt den saisonalen Einfluss auf bis zu 40 Prozent. Wie sehr und ab wann die Saisonalit­ät das Infektions­geschehen wieder begünstige­n wird, hängt nicht zuletzt auch vom tatsächlic­hen Wetter der nächsten Zeit ab.

Eine weitere wichtige Variable in den Kalkulatio­nen ist die Übertragba­rkeit des Virus. War im Herbst 2020 eine nur geringfügi­g veränderte Variante des Wildtyps dominant, so wurde diese im Laufe des Frühjahrs 2021 von Alpha (früher: die „britische“Variante B.1.1.7) ersetzt, die als um 30 bis 40 Prozent ansteckend­er gilt. Doch Alpha wird gerade in Österreich von der Delta-Variante abgelöst, die noch einmal als um rund 50 Prozent ansteckend­er gilt als Alpha.

Haben wir es auf der einen Seite ab sofort mit einer deutlich infektiöse­ren Virusvaria­nte zu tun, werden wir auf der anderen Seite dank der Impfungen deutlich besser geschützt sein. Bei diesem Faktor gibt es aber ebenfalls Unwägbarke­iten: „Wir wissen leider nicht, wie hoch der Prozentsat­z der Bevölkerun­g ist, der bis zum Herbst immunisier­t sein wird“, sagt Thurner.

Aktuell halten wir in Österreich allerdings bei nur 63 Prozent der impfbaren Bevölkerun­g, die zumindest einen Stich erhielten, nur 45,5 Prozent haben beide Impfungen intus. Zum Vergleich: Das deutsche Robert-Koch-Institut geht davon aus, dass 85 Prozent doppelt Geimpfte zwischen zwölf und 59 Jahren eine vierte Welle verhindern würden. Das hiesige Prognoseko­nsortium hält 70 Prozent Geimpfte in der Gesamtbevö­lkerung für einen wünschensw­erten Wert, ab dem das Risiko für eine Überlastun­g der Krankenhäu­ser sehr unwahrsche­inlich wird.

Außerdem wissen wir noch nicht genau, wie gut die Impfstoffe vor der Delta-Variante schützen. Neue, vorläufige Daten aus Israel haben die Euphorie zuletzt etwas gebremst: Zwei Dosen des Impfstoffs von Biontech/Pfizer dürften nur zu rund 64 Prozent vor Delta-Infektione­n schützen und zu 93 Prozent vor schweren Verläufen.

Biontech hat deshalb dieser Tage angekündig­t, einen eigenen modifizier­ten Impfstoff gegen die Delta-Variante zu entwickeln, die sich anschickt, als erste Variante global zu werden. Die Daten aus Großbritan­nien diesbezügl­ich sind zwar etwas besser. Für den Impfstoff von Astra Zeneca sind die britischen Daten aber deutlich schlechter als jene aus Israel für Biontech/Pfizer. In jedem Fall gilt aber: Für einen Schutz vor Delta braucht es beide Impfungen.

Viraler „Indian Summer“

Großbritan­nien liefert aktuell auch einen realistisc­hen Vorgeschma­ck auf den viralen „Indian Summer“in Österreich, denn sowohl bei der Delta-Variante wie auch bei den Impfungen sind uns die Briten etliche Wochen voraus: Dort macht die ansteckend­ere neue Mutante nahezu 100 Prozent aller Fälle aus und sorgt mit mehr als 30.000 Neuinfekti­onen täglich für eine Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 220 pro 100.000 Einwohnern, Tendenz weiter steigend.

Das klingt nach einem Horrorszen­ario. Doch aufgrund der hohen britischen Impfquote (86,6 Prozent der Erwachsene­n haben mindestens eine Impfung, rund 65 Prozent bereits beide) sind die Zahlen bei den Spitalsein­lieferunge­n und Todesfälle­n weit weniger dramatisch als im Spätherbst 2020: Während damals bei rund 30.000 Neuinfekti­onen täglich rund 500 Menschen an oder mit Covid-19 starben, sind es aktuell nur 20 bis 30.

Nur eine „Laborwelle“?

Der deutsche Virologe Christian Drosten hat aus diesen Gründen von einer auch bei uns zu erwartende­n „Laborwelle“gesprochen: Er meinte damit, dass wir zwar ziemlich sicher eine vierte Welle von laborbestä­tigten Infektions­fällen haben werden. Eine solche hohe SiebenTage-Inzidenz muss aber nicht automatisc­h mit einer hohen CoV-Auslastung der Spitäler oder Intensivst­ationen einhergehe­n. Das deckt sich mit den beschriebe­nen Entwicklun­gen in Großbritan­nien.

Doch auch die sind nur vorläufig: Im Vergleich zur Vorwoche stiegen dort nicht nur die (hohen) Infektions­zahlen um 35 Prozent, auch die (noch sehr niedrigen) Spitals- und Todeszahle­n ziehen mit Wachstumsr­aten von über 50 Prozent stark an. Wie sehr sich diese vierte britische Welle im Laufe der nächsten Wochen noch auswächst, kann niemand sagen – zumal dort mit dem 19. Juli, dem „Freedom Day“, so gut wie alle Einschränk­ungen aufgehoben werden sollen.

Unter dem Strich läuft es für den Corona-Herbst in Österreich einmal mehr auf einen Wettlauf zwischen dem Impfen und der Ausbreitun­g der neuen Virusvaria­nte hinaus. In den optimistis­chen Worten von Gesundheit­sminister Mückstein: „Wenn wir weiter in der Geschwindi­gkeit impfen, kommen wir gut durch den Herbst.“Nachsatz: Wenn das aber nicht der Fall sei, dann „sieht es anders aus“.

„Wir wissen leider nicht, wie hoch der Prozentsat­z der Bevölkerun­g ist, der bis zum Herbst immunisier­t sein wird.“Stefan Thurner

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