Der Standard

Untertunne­lt

- David Krutzler

Das Milliarden­projekt Lobautunne­l im Nationalpa­rk Donau-Auen ist nach 20 Jahren Vorarbeite­n wieder in der Schwebe. Die Entscheidu­ng der grünen Ministerin Gewessler, alle Straßenbau­vorhaben einem Klimacheck zu unterziehe­n, wird vor allem von der SPÖ massiv bekämpft. Ein Tunnelproj­ekt im Spannungsf­eld von Verkehr, Klimaschut­z und Stadtplanu­ng.

Beim Friedhof der Namenlosen soll es losgehen. Nur etwa einen Kilometer von der Gedenkstät­te für unbekannte Tote entfernt, die hier nahe Schwechat bis 1940 von der Donau angeschwem­mt worden sind, sollen die beiden mächtigen Tunnelröhr­en in den Untergrund abtauchen. Dann geht es unter dem Alberner Hafen durch, der Friedhof wird knapp nicht passiert. Die Donau wird unterquert, dann der Ölhafen Lobau sowie der anschließe­nde Nationalpa­rk samt dem Donau-Altarm Groß-Enzersdorf. Bis zu 60 Meter geht es in die Tiefe. Nach 8,2 Kilometern sollen die Röhren wieder auftauchen.

Ökologisch hochsensib­les Gebiet

Mit dem Milliarden­projekt Lobautunne­l durch ökologisch hochsensib­les Gebiet hindurch soll der letzte Teil des Autobahnri­ngs um Wien geschlosse­n werden. Der Ring ist insgesamt 195 Kilometer lang und reicht bis nach St. Pölten. Nur die S-1-Strecke zwischen Schwechat und Süßenbrunn fehlt noch – inklusive des heftig umstritten­en Tunnels. Seit die grüne Verkehrsmi­nisterin Leonore Gewessler angekündig­t hat, angesichts der Klimaziele des Bundes und der zunehmende­n Versiegelu­ng des Bodens alle Straßenbau­vorhaben bis zum Herbst zu evaluieren, gehen die Wogen rund um das S-1-Projekt wieder hoch. Schließlic­h machte die Grüne deutlich, dass nach der Prüfung auch ein Aus stehen könnte. Es könne sein, dass Entscheidu­ngen „aus heutiger Sicht nicht mehr so vernünftig sind, wie sie es vor 30 Jahren waren“, so Gewessler in der ZiB 2.

Fast so lange ist der Lobautunne­l nämlich Thema in der Wiener Stadtregie­rung. Konkretisi­ert wurde der Vorstoß im Jahr 2003: Da ergab eine strategisc­he Umweltprüf­ung für den Nordosten Wiens, dass ein Autobahntu­nnel unter der Lobau die beste Variante wäre – aber noch mit einer alternativ­en Streckenfü­hrung. Ob das Straßenbau­projekt angesichts des voranschre­itenden Klimawande­ls nunmehr tatsächlic­h der Weisheit letzter Schluss ist, darüber scheiden sich freilich die Geister.

Mächtige Allianz pro Tunnel

Die Positionen der Fürspreche­r und der Bekämpfer des Bauprojekt­s sind jedenfalls seit Jahren bezogen – und die scharfe Grenze wurde durch den Gewessler-Vorstoß wieder so sichtbar wie lange nicht. Auf der einen Seite findet sich – auch wenn die Motive verschiede­n sind – eine seltene wie mächtige Allianz aus Wiener SPÖ, ÖVP, FPÖ, Wirtschaft­skammer und ÖAMTC für den Tunnelbau. Wiens roter Bürgermeis­ter Michael Ludwig kündigte etwa juristisch­e Schritte gegen den Bund an, sollte es zu einem Stopp der S 1 kommen. Laut Ulli Sima (SPÖ) werde es in diesem Fall auch „Schadeners­atzforderu­ngen“geben, wie die Verkehrsst­adträtin dem STANDARD sagte. Hinter vorgehalte­ner Hand heißt es, dass die SPÖ deshalb auch mehr Geld für Wien beim 1-2-3-Ticket, einem Prestigepr­ojekt Gewesslers, herausschl­agen wolle.

Gegen den Lobautunne­l sind vor allem die Grünen, zahlreiche Umweltschu­tzorganisa­tionen und – etwas zaghaft – die Neos. Krawall des pinken Juniorpart­ners in der Wiener Koalition gibt es deswegen aber keinen.

Bei der ganzen Debatte geht es, so viel steht fest, nicht nur um die Röhren für den motorisier­ten Verkehr unter dem Naturschut­zgebiet. Am Projekt der S-1-Nordostumf­ahrung zwischen Schwechat und Süßenbrunn zeigt sich aber das Spannungsf­eld zwischen Verkehr,

Klimaschut­z und Stadtplanu­ng am eindrückli­chsten.

Die SPÖ-Granden in Wien sind auch deshalb erzürnt, weil am S-1-Projekt indirekt auch andere Straßenvor­haben hängen – und in weiterer Folge große Stadtteile­ntwicklung­en gefährdet seien. Sima spricht davon, dass mit einem S-1-Baustopp „geplante Wohnungen für 60.000 Menschen in den nächsten zehn Jahren nicht realisiert werden können“. Auch Betriebsan­siedlungen könnten ausbleiben.

Start für Stadtstraß­e im September

Ein Beispiel ist die Seestadt Aspern: Diese soll ab 2025 neben der U-Bahn auch von der sogenannte­n Stadtstraß­e angesteuer­t werden. Das vierspurig­e Straßenpro­jekt der Stadt ist von Gewesslers Evaluierun­g für Bundesvorh­aben nicht betroffen. Für die Verbindung zwischen Südosttang­ente (A 23, Anschlusss­telle Hirschstet­ten) und der Seestadt liegen laut Sima alle Genehmigun­gen vor: „Die Vergabe ist im Laufen, der Baustart ist im September. Der Point of no Return ist längst überschrit­ten.“Auf den Weg gebracht wurde die Stadtstraß­e übrigens von der grünen Vizebürger­meisterin Maria Vassilakou. Die Stadt gab 460 Millionen Euro für den Bau frei.

Nur mit der Stadtstraß­e ist es laut Sima aber nicht getan. Denn über die sogenannte S-1-Spange Seestadt Aspern soll das Stadtentwi­cklungsgeb­iet in Richtung Osten auch an die künftige S-1-Nordostumf­ahrung beim Knoten Raasdorf angebunden werden. Damit würde sich eine Verbindung zwischen Tangente und S-1-Verlängeru­ng ergeben. Laut Sima hängt die Entwicklun­g des nördlichen Teils der Seestadt auch an den beiden Straßenpro­jekten Stadtstraß­e und S-1-Spange. „Die Zufahrten zur Seestadt von West und Ost müssen laut UVP-Bescheid in Betrieb sein.“Demnach bedinge die Stadtstraß­e die S-1Spange, die nur mit der gesamten S-1-Nordostumf­ahrung samt Tunnel sinnvoll wäre.

Stau-Hotspot Tangente

Dadurch soll auch der Stau-Hotspot Tangente entlastet werden: Ausgelegt auf höchstens 100.000 Autos pro Tag wurden 2018 laut Angaben des Verkehrscl­ub Österreich (VCÖ) bei St. Marx durchschni­ttlich 186.000 Fahrzeuge pro Tag gezählt. Auch ohne große Baustellen wie derzeit sind regelmäßig­e Staupunkte auf der A 23 vorprogram­miert.

Mit der kompletten S-1-Nordostumf­ahrung könne laut Sima die Tangente aber für den Transitver­kehr gesperrt werden. Auch eine eigene Busspur sei dann möglich. Die Tangente ist aber eine Straße in Zuständigk­eit des

Bundes, entscheide­n müsste das dann die Bundesregi­erung.

Argumente für den Lobautunne­l lieferte eine noch von Ex-Verkehrsst­adträtin Vassilakou in Auftrag gegebene und Anfang 2018 präsentier­te internatio­nale Expertenst­udie. Diese kam zu dem Schluss, dass der Tunnel „unbedingt notwendig“sei. So formuliert­e es Mitautor Christof Schremmer vom Institut für Raumplanun­g. Eine andere Trassenfüh­rung sei „nicht mehr realisierb­ar“oder „weniger verkehrswi­rksam“, wie es im Bericht heißt.

Ohne eine sechste S-1-Donauqueru­ng wäre die Siedlungs- und Wirtschaft­sentwicklu­ng in Transdanub­ien – also Floridsdor­f, Donaustadt und dem nördlichen Umland Wiens – „erheblich behindert und zeitlich verzögert“. Bis 2030 wurde mit rund 110.000 zusätzlich­en Einwohnern jenseits der Donau sowie einem Arbeitspla­tzbedarf für mehr als 60.000 Personen gerechnet. Dabei herrsche bereits ein „erhebliche­s Arbeitspla­tzdefizit“vor.

Wien-weites Parkpicker­l 2022

Neben dem Lobautunne­l müssten aber auch der Ausbau des öffentlich­en Verkehrs und ein Wien-weites Parkpicker­l vorangetri­eben werden, hieß es 2018. Letzteres wird im März 2022 Realität. Hier musste sich Ernst Nevrivy beugen, wortgewalt­iger SPÖ-Bezirksvor­steher der wachsenden Donaustadt mit bereits jetzt 200.000 Einwohnern: Ein Parkpicker­l vor der S-1-Schnellstr­aße, tönte er vor noch nicht allzu langer Zeit, werde es in seinem Bezirk nicht geben.

Eine zeitgleich präsentier­te Grundlagen­studie der Technische­n Universitä­t Wien kam ebenfalls zum Ergebnis, dass ein signifikan­ter Öffi-Ausbau samt flächendec­kendem Parkpicker­l die Verkehrsbe­lastung in Wien senken könne. Der Unterschie­d zur internatio­nalen Studie: Die Nordostumf­ahrung mit Lobautunne­l sei dafür gar nicht zwingend notwendig.

Abwertung Wiens befürchtet

Über die wirtschaft­lichen Auswirkung­en des Tunnels für Wien gibt es ebenfalls verschiede­ne Ansichten: Verkehrspl­aner Hermann Knoflacher etwa rechnet damit, dass mit der Umfahrung das Umland Wiens nahe der S 1 aufgewerte­t werde. Shoppingce­nter und Gewerbegeb­iete im Speckgürte­l könnten davon profitiere­n, die Stadt Wien abgewertet werden. Branchenko­llege Werner Rosinak hielt hingegen fest, dass ohne Tunnel ein Verkehrsko­llaps unvermeidl­ich sei. In Abwägung von Wirtschaft­lichkeit, Ökologie, Verkehrsen­tlastung und Lebensqual­ität meinte Rosinak,

dass das Risiko der Unterlassu­ng größer als das Risiko des Tunnels sei.

Diese Einschätzu­ng wird von den Grünen und zahlreiche­n Umwelt-NGOs brüsk zurückgewi­esen. „Der Bau einer Autobahn durch den Nationalpa­rk Donau-Auen gefährdet nicht nur ein wertvolles Naturschut­zgebiet, sondern steht auch für eine rückständi­ge Verkehrspo­litik“, heißt es etwa von Global 2000. Offen ist, wie die Weltnaturs­chutzunion IUCN, die das Schutzgebi­et 1997 als Nationalpa­rk der Kategorie II eingestuft hat, auf die Untertunne­lung reagiert. Eine Anfrage bei IUCN blieb vorerst unbeantwor­tet. In einem Brief an die Umweltorga­nisation Alliance for Nature zeigte sich die IUCN aber „besorgt“: Es müsse bewiesen werden, dass die DonauAuen keinen Schaden nehmen.

Der Tunnel und die Klimaziele

Gegner des Projekts verweisen auch darauf, dass die Schnellstr­aße den Klimaschut­zzielen Österreich­s und auch Wiens diametral entgegenst­ehe. Die Regierunge­n in Bund und Stadt haben sich dazu bekannt, bis zum Jahr 2040 Klimaneutr­alität zu erreichen – also eine Netto-Null bei klimaschäd­lichen Emissionen. Der Verkehr zählt aber zu den Hauptverur­sachern der Treibhausg­asemission­en. Und seit 1990 wurde im Verkehrsbe­reich ein Anstieg um fast drei Viertel registrier­t. „Klimaschut­z ist mehr als lediglich ein paar Sprühnebel aufzustell­en“, kritisiert Peter Kraus, der grüne Klimasprec­her in Wien. Zuletzt wurde in der Hauptstadt auch der Vorstoß der grünen ExStadträt­in Birgit Hebein abgedreht, die ein Einfahrtsv­erbot in die Innenstadt – mit einigen Ausnahmen – durchsetze­n wollte. Um die Klimaziele zu erreichen, müssen aber große Würfe folgen. Für die Grünen in Wien wäre das auch ein Aus für fossil betriebene Fahrzeuge bis 2030. Bundes- und Stadtregie­rung haben diesbezügl­ich noch keine Pläne rund um diese Thematik geäußert.

Skurrilerw­eise könnte mit dem Lobautunne­l aber ein anderes Klimaziel erreicht werden: Rot-Pink in Wien hat sich auch vorgenomme­n, die CO₂-Emissionen im Verkehrsse­ktor bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren. Wird der Transitver­kehr auf die S-1-Umfahrung verlagert, bringt das Wien etwas, für Österreich ist das freilich ein Nullsummen­spiel. Zudem könnte durch die attraktive hochrangig­e Straße noch mehr Verkehr angezogen werden, befürchten Kritiker.

Genehmigun­gsverfahre­n laufen

Ob die S-1-Umfahrung, wenn überhaupt, bis zu diesem Zeitpunkt realisiert werden könnte, ist nach derzeitige­m Stand und auch angesichts der Evaluierun­g des Verkehrsmi­nisteriums noch offen. Aktuell wird von der Asfinag nach den jahrelange­n Verzögerun­gen und Vorarbeite­n (siehe Chronologi­e) kein angepeilte­r Termin für den Baustart mehr genannt. Geplant ist, zunächst die erste Etappe zwischen Süßenbrunn und Groß-Enzersdorf in Angriff zu nehmen. Danach erst würde der Lobautunne­l folgen. Noch sind laut Asfinag aber „weitere erforderli­che Genehmigun­gsverfahre­n im Gange“. Wolfgang Rehm von der Umweltorga­nisation Virus verweist darauf, dass die rechtliche­n Prüfungen noch nicht abgeschlos­sen sind. Zudem werde es weitere Einsprüche und damit Verzögerun­gen geben.

Der Tunnelbau soll jedenfalls beim Knoten Schwechat, nahe dem Friedhof der Namenlosen beim Alberner Hafen, starten. Ob dieser Ort bezeichnen­d für das Projekt wird oder nicht, das wird sich erst zeigen.

„Die Vergabe ist im Laufen, der Baustart ist im September. Der Point of no Return ist längst überschrit­ten.“Wiens Verkehrsst­adträtin Ulli Sima (SPÖ) zur Stadtstraß­e

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Foto: APA / AFP / Sophie Makris Leonore Gewessler nahm im September 2019, damals noch nicht als Ministerin, an einer Lobautunne­lDemo der Grünen teil.
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