Die Welt unter Wien
Wiens Keller sind ungewöhnlich tief. Hier suchten Menschen im Krieg Schutz vor Bomben und nutzten dafür eine Infrastruktur, die noch viel älter ist. Ein Streifzug in die Stadt unter der Stadt.
Erwin, wussten wir, dass es dahinten weitergeht?“Die Stimme von Jeremy Plaidl vibriert vor Aufregung. Der 26-Jährige legt seine Tasche ab, entschuldigt sich und zwängt seinen kleinen, schlanken Körper an den Leitungsrohren vorbei in ein dunkles Loch in der Wand. Dann hört man ihn für etwa anderthalb Minuten nur mehr dumpf. „Das ist ein alter Brunnen im Nachbarhaus“, sagt Plaidl, als er zurückgekrochen kommt. Staubig, aber glücklich. Wie so oft, wenn er in Wiens Unterwelt unterwegs ist.
Unter den Füßen der Wiener existiert eine Stadt unter der Stadt. Das Ausmaß ist vielen Einwohnern gar nicht bewusst. In Wien – vor allem in der Inneren Stadt, also dem ersten Bezirk – gehen die Keller bis zu vier Stockwerke tief. Das ist für eine Großstadt sehr selten. In Wiens Unterwelt reihen sich Luftschutzbunker an mittelalterliche Keller, Gewölbe an Tiefgarage. Vieles ist mittlerweile zugemauert oder verschüttet, noch viel mehr vergessen, weil es schon lange nicht mehr genutzt wird. Und da kommen Enthusiasten wie Plaidl ins Spiel.
In Situationen wie an diesem Morgen im Juni, circa 15 Meter unter der Erde, ist er in seinem Element. Er redet schnell und mit Begeisterung, erklärt kundig, wie ein Luftschutzraum aufgebaut war. Um dann plötzlich einen Satz wie „Man muss in jede Ecke kriechen, sonst übersieht man etwas!“hinauszustoßen und irgendwo in einer dunklen Nische zu verschwinden.
Hier, tief unter der Musik- und KunstPrivatuniversität der Stadt Wien (Muk), befindet sich eine große Halle, ausladend und weißgestrichen. Die Decke wird von riesigen Säulen aus der Renaissance-Zeit und zusätzlich eingezogenen Stützen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs getragen. In diesen Raum kommt man nur hinein, wenn einem Erwin, der Hausbesorger, die Tür öffnet. Es wirkt, als sei die Zeit hier stehengeblieben. Überall finden sich Relikte aus Kriegs- wie Nachkriegszeit, von Schildern („Ruhe! Rauchverbot!“) über Fahrkarten bis zu Zeitungsartikeln („Friedenspolitik der Sowjetunion findet überall Anerkennung“). In einem kleinen Nebenraum stehen runde, kleine Fässer. Es sind chemische Toiletten, die Dixie-Klos der Kriegszeit.
Das Luftschutzraumnetz
Das „Luftschutzraumnetz Innere Stadt“– der Keller unter der Schule ist ein Teil davon, hier konnten Obdachlose Unterschlupf finden – ist ein System aus durch Gänge verbundenen Luftschutzkellern. Zwölf Kilometer lang sollten sich die Gänge unter Wien durchziehen und den Menschen Schutz vor den Bomben geben. Mit dem Bau wurde 1944 begonnen, 1945 wurde er vollendet. Wobei „vollendet“ein wenig euphemistisch ist: Die geplanten zwölf Kilometer wurden nie fertig. Die Karten, die existieren (es gibt sie nur vom Teil südlich der Kärntner Straße, niemand weiß, warum), bilden die unterirdische Welt nicht akkurat ab.
Die Luftschutzräume sind keine Bunker im engeren Sinn. Diese gibt es in Wien auch, sie wurden aber damals alle neu errichtet. Die Luftschutzräume sind hauptsächlich bereits bestehende Keller, wie der unter der Muk. Die Verbindungsgänge zwischen den Kellern hingegen wurden neu gegraben. Sie sind etwa einen Meter breit und zwei Meter hoch, es ist dunkel, eng und heiß. In die Ziegel haben Zwangsarbeiter Nachrichten hineingeritzt: Vor allem Italienisch und Ukrainisch, erkennbar an den kyrillischen Buchstaben, findet man oft. Die Keller haben eine interessante, aber auch dunkle Vergangenheit.
Fast alle Verbindungsgänge sind heute zugemauert, für Menschen ist irgendwann Schluss. Die Wiener Netze nutzen die Tunnel gern, um Leitungen zu verlegen, es spart Arbeit. „Wir finden immer wieder Zeitkapseln“, erzählt Plaidl. Räume, in die 1945 Dinge hineingestopft wurden und die seitdem zugemauert sind. Manchmal sind es harmlose Sperrmülllager. Aber immer wieder finden sich dort auch Nazi-Utensilien, die man nach dem Krieg schnell loswerden wollte. In solchen Fällen rückt das Denkmalamt an.
Kaum jemand kennt sich hier unten so gut aus wie Plaidl. Der beeindruckend tätowierte und gepiercte Hobbyfotograf, im Brotberuf Lokführer, ist nach eigenen Angaben „sicher dreimal die Woche“unter der Erde. Seit ein paar Jahren betreibt er die Instagram- und Facebook-Seite Vergessenes Wien, wo er und seine Mitstreiter Fotos von ihren Touren und den besonders attraktiven Kellern der Öffentlichkeit präsentieren. Sie legen Wert darauf, dass alle ihre Aktivitäten legal sind. „Wir fragen einfach, ob wir in die Keller dürfen“, sagt Plaidl. Sie gehen herum, sprechen mit Mietern, Eigentümern oder Hausbesorgern, die sie in die Keller lassen. Und manchmal steht eine Kellertür auch einfach offen.
Wiens Unterwelt blickt auf eine lange Geschichte zurück. Sie strahlt etwas Geheimnisvolles, Unheimliches, Verbotenes aus. Viele Legenden ranken sich um die Stadt unter der Stadt. Wie die der Wiener Miliz, die während der zweiten Türkenbelagerung in den Kellern Fässer mit Wasser aufstellten, um Erschütterungen sichtbar zu machen und so herauszufinden, wo die osmanischen Mineure gerade gruben. Oder um die Mitglieder des Templerordens, die unterirdisch ihrer Verfolgung entgingen. Es gibt das Gerücht, dass man früher unterirdisch von einem Ende Wiens bis zum anderen gehen konnte. Beweisen kann man das nicht – die Unterwelt ist schon heute schlecht kartiert, das gilt für die mittelalterliche und neuzeitliche Stadt noch mehr. Aber niemand, mit dem man spricht, hält es für unwahrscheinlich.
Tiefe Keller
Für die ungewöhnlich tiefen Keller gibt es eine einfache Erklärung: Wiens Innenstadt steht auf einem Plateau. An manchen Stellen sieht man das gut, zum Beispiel beim Blick vom Schwedenplatz in Richtung Ruprechtskirche. Es war also ausreichend Material da, in das man sich sicher eingraben konnte. Das beschränkt sich aber nicht nur auf die Innenstadt: Im achten und neunten Bezirk, damals noch Vorstädte, gibt es große, alte Weinkeller. Jenseits des Donaukanals, in der Leopoldstadt oder in Transdanubien, gibt es diese Welt der Keller nicht. Das war Donau
schwemmland, tiefe Grabungen waren dort unmöglich.
Wien ist eine alte Stadt, und ihre Unterwelt ist heute ein Mosaik aus verschiedensten Epochen. „Bis zum Zweiten Weltkrieg hat man neue Häuser meist auf die bestehenden Keller draufgesetzt“, erklärt Gabriele Lukacs. Seit knapp 15 Jahren führt die Fremdenführerin im Rahmen ihrer „Mystery Tours“Interessierte auch durch die Welt unterhalb der Stadt. Die Gründerzeithäuser, für die Wien so bekannt ist, stünden oft auf deutlich älteren Kellern.
Die ältesten erhaltenen Gewölbe Wiens gehen auf das 12. Jahrhundert zurück. Aber die zeitliche Bestimmung ist oft auch eine Definitionsfrage. „Im Keller des Hauses, wo sich das Café Demel befindet, wurden Teile einer römischen Wasserleitung und eine Säule in der Wand verbaut“, erzählt Lukacs. Teile der Wiener Keller stammen aus der Zeit, als die Stadt noch Vindobona war, und sind damit knapp 2000 Jahre alt. Stadtarchäologie
In den letzten 75 Jahren hat sich die Wiener Unterwelt stark verändert. Es wurden Tiefgaragen gebaut, moderne Keller, U-Bahnen. Nicht alles davon ist in Benutzung. Parallel zu den Röhren der U3 verläuft ein Gang unter der Mariahilfer Straße; am Westbahnhof gibt es nie in Betrieb gegangene Autotunnel, gebaut für den Fall, dass man den Verkehr einmal in den Untergrund verlagern will. Heute kommt man in diese vergessene Welt kaum mehr hinein. Das war früher ein wenig lockerer: Viele mittelalte Wiener können Geschichten von Raves unter der Erde erzählen.
Wissenschaftlich beschäftigt sich mit der Erforschung der Keller zum einen die Bauforschung, die bestehende Gebäude, also auch die Keller, untersucht und datiert. Und die Archäologie, die darunter liegende Bodendenkmäler
untersucht. In der Praxis geht das oft Hand in Hand. Die Bauforschung wird meist von spezialisierten Unternehmen durchgeführt, die Ausgrabungen macht die Stadtarchäologie Wien.
„Durch den Tiefgaragenbau verschwinden selten alte Keller, weil diese oft zu denkmalgeschützten Gebäuden gehören“, sagt Christoph Oellerer von der Stadtarchäologie Wien. Was aber durchaus vorkomme: dass man im Zuge von Bauarbeiten auf zugeschüttete Keller stoße. Diesen gingen meist auf eine Änderung der Baufluchtlinien (grob gesagt die Fläche, innerhalb derer überhaupt gebaut werden darf) zurück. Oder einfacher: Das neue Haus passte nicht mehr auf die alten Keller, die daraufhin in Vergessenheit gerieten. Vor größeren Bauvorhaben führt die Stadtarchäologie oft sogenannte Not- bzw. Rettungsgrabungen durch, um die Funde (seien es mittelalterliche Keller, Reste von Bestattungen oder römische Artefakte) zu sichern und zu untersuchen. Aktuell hat man durch den U-BahnBau alle Hände voll zu tun. Pfeile und Farbe
Nicht weit von der Musik- und Kunst-Privatuniversität Wien entfernt steht Jeremy Plaidl mittlerweile unter einem anderen Haus. Hier gibt es keine ausladenden Renaissance-Säulen, es schaut aus wie ein stinknormaler Keller. Aber auch hier suchten Menschen vor den Bomben Schutz. Plaidl weiß nach Jahren der Erkundung sofort, worauf er achten muss. Er fährt mit dem Schein seiner Taschenlampe langsam über die weiße Wand, zurück bleibt ein grünlich leuchtender Strich. „Fluoreszierende Farbe. Die gibt es in vielen Kellern Wiens.“
Die Wandfarbe sollte eine Orientierung auch noch dann möglich machen, wenn der Strom ausgefallen war. Ein sicheres Indiz für einen Luftschutzraum. Genauso wie die Pfeile an der Wand, die die Richtung anzeigen – hin zu den Schutzräumen beziehungsweise zu den Notausgängen.
„In fast allen Bezirken wurden die Keller als Luftschutzräume genutzt“, sagt Plaidl, nur eben nicht als Teil eines Netzes. Sein Tipp für Laien: Wenn man wissen will, ob der eigene Keller einmal als Luftschutzraum in Verwendung war, sollte man eben nach diesen zwei Dingen Ausschau halten: der fluoreszierenden Wandfarbe und den Pfeilen an der Wand.
Und tatsächlich: Geht man nach dem Termin in den eigenen Keller in Wien-Ottakring, schaut einem als Allererstes ein verwitterter Pfeil entgegen, dem man bislang nie Beachtung geschenkt hat. Ein Teil des alten, unterirdischen Wien, das vielleicht noch vergessener wäre, gäbe es nicht solche Enthusiasten wie Jeremy Plaidl.