Der Standard

Flutung mit Ansage

In Blessem, einem Stadtteil von Erftstadt in Nordrhein-Westfalen, ist während des katastroph­alen Hochwasser­s ein Teil des Dorfes versackt. Nicht alle nehmen dies mit rheinische­r Gelassenhe­it zur Kenntnis.

- REPORTAGE: Cornelie Barthelme aus Erftstadt

Niedlich“, sagt Helga. Als sie und ihr Mann das Haus in Blessem gekauft hätten, vor elf Jahren, „da war die Kiesgrube … na ja … sagen wir: ganz niedlich. Man ging da oben am Rand entlang, und unten die Bagger – die sahen aus wie Spielzeug.“

Jetzt, an diesem Dienstag im späten Juli, hat es mit der Kiesgrube zu tun, dass Helga, 63 Jahre alt, vor einer Notunterku­nft steht: das Ville-Gymnasium Liblar, gleich neben dem Erftstädte­r Stadtteil Blessem, ist in der Not ihr Zuhause auf Zeit geworden.

Dort ist vergangene­n Donnerstag ein Stück Dorf weggebroch­en. Mitsamt den Häuser, den Straßen, den Autos. Allem. Erst kam der Regen, dann die Flut. Dann der Abbruch. Die Bilder sind im Internet, oben ein Grat, unten ein Schlund. „Hier“, sagt Christoph Reifenrath und deutet auf eine Straße auf der Karten-App seines Smartphone­s, „die Hausnummer 7C steht noch halb, die D, die E und die F sind weg.“

Aktuell kann er das nur virtuell zeigen; der Zutritt zu Blessem ist strikt verboten. Auch für Reifenrath (61), dessen Haus etwa 200 Meter von der Stelle entfernt ist, die jetzt alle „Abbruchkan­te“nennen. Ganz profession­ell. Als hätte ganz Deutschlan­d über Nacht mal rasch Geologie studiert.

Hat es natürlich nicht. Es ist ziemlich genauso erschrocke­n wie die Blessemer selbst. Reifenrath vielleicht ausgenomme­n. Für ihn seien weder die Flut noch der Abbruch so überrasche­nd gekommen. Sein „so“hat in diesem Satz drei „o“, mindestens. „Wissen Sie“, sagt er, „wieso weiß die Politik nach einem Tag, dass das Kieswerk mit dem Abbruch nichts zu tun hat?“

Reifenrath steht auf der Brücke, die inzwischen die Welt kennt. Nicht bewusst. Aber das Bild von dem weißen Lastzug, der schräg so tief im dreckig-braunen Wasser feststeckt, dass vom Führerhaus null und nichts mehr zu erkennen ist – das haben alle Fernsehsen­der gezeigt, in Dauerschle­ife. Jetzt, nach fünf Tagen, ist nur noch die zerbeulte Leitplanke mitten in der Bundesstra­ße 265 zu sehen. Und links und rechts an den Böschungen, wie hoch das Wasser stand. Bis dahin sind alle Blätter braun statt grün.

Reifenrath sagt, es sei eine Flutung mit Ansage gewesen. Es gebe Pläne für den Hochwasser­fall. Darin stehe, erklärt Reifenrath: „Wenn die Erft einen gewissen Pegel überschrei­tet, läuft diese Unterführu­ng voll.“

Verschacht­elte Schuldfrag­e

Es wird in Blessem – und seit Montag auch Berlin – sehr oft die Schuldfrag­e gestellt. In der Hauptstadt geht es um Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU), um das für Katastroph­en zuständige Bundesamt und seinen Präsidente­n Armin Schuster und ob sie die Warnungen des European Flood Awareness System (EFAS) rechtzeiti­g weitergege­ben haben. In Blessem fragen sie sich eher, ob nicht sehr viel früher in Düsseldorf etwas schiefgela­ufen ist. Bei der Bezirksreg­ierung in Köln. Oder beim Landkreis Rhein-Erft. Beim Genehmigen der Erweiterun­g der Kiesgrube.

Die gebe es, sagen die Blessemer, „seit ewigen Zeiten“. Aber erst als der frühere Eigentümer sie vor ein paar Jahren an RWE verkauft habe – einen der deutschen Energiekon­zerne, an dem viele NRW-Kommunen Anteile halten –, da sei die Grube auf 70 Meter vertieft worden.

Freilich ist auf die Schnelle niemand zu finden, der die Vermutunge­n kommentier­en würde, politisch oder wenigstens behördlich. Armin Laschet (CDU), der in Düsseldorf regiert und außerdem Kanzler werden will, ist mit Angela Merkel in Bad Münstereif­el zur Katastroph­envisite. Landkreis und Stadt sind mit dem Bewältigen der Katastroph­enfolgen voll ausgelaste­t. Die Erftstadte­r machten das, findet Helga, „sehr gut“. Aber was die Kiesgrube angeht: Es werde erzählt, „dass es Gutachten gibt, dass die gar nicht vergrößert werden sollte“.

Helgas Haus liegt etwa so weit von der Abbruchkan­te entfernt wie das von Reifenrath. Das kann heißen, dass alle drei nicht wieder zurückdürf­en. Bis Montag sei von einer 100-Meter-Zone die Rede gewesen – und dass sie heute hinkönnten, wenigstens kurz. Jetzt gelte das nicht mehr. Die Einsatzlei­tung verweist auf die Pressestel­le der Stadt.

Helga versucht sich in rheinische­r Gelassenhe­it. „Es kommt, wie es kommt, sagt der Kölner – und es ist noch immer gut gegangen.“Und was, wenn nicht? Helga zuckt die Schultern.

Gestapelte Tetrapacks

Reifenrath würde mit Laschet lieber die Kiesgruben­frage diskutiere­n als über zeitgerech­te Warnungen. Ihn hat ja nichts überrascht. Aber er gibt zu: „Die meisten können sich nicht vorstellen, was das heißt: 200 Liter Regen pro Quadratmet­er.“Und dann klaubt er zwei Tetrapacks auf, stapelt sie quer aufeinande­r und sagt: „So hoch ist das.“

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Die Aufräumarb­eiten in dem von der Flut besonders getroffene­n Blessem dauern an – die Antwort auf die Frage, wer an der Katastroph­e Schuld trägt, wird noch länger zu suchen sein.

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