Der Standard

Triumph und Streit der Insulin-Entdecker

Vor genau hundert Jahren gelang Frederick Banting und Charles Best die Isolierung von Insulin. Sie waren nicht die einzigen Wissenscha­fter, denen Zuckerkran­ke ein so gut wie normales Leben verdanken.

- Peter Illetschko

Ted Ryder aus New Jersey war Anfang der 1920er-Jahre ein schwer krankes, körperlich geschwächt­es Kind von fünf Jahren: Schon länger zeigte er deutliche Symptome von Typ-1-Diabetes. Häufiger Harndrang und starker Durst quälten den Buben genauso wie körperlich­e Erschöpfun­g. Ted war auf etwa zehn Kilogramm Körpergewi­cht abgemagert – das alles, weil ihm das lebenswich­tige Hormon Insulin fehlte.

Beim Typ-1-Diabetes, einer Autoimmune­rkrankung, zerstört das Immunsyste­m die Insulin produziere­nden Betazellen in den Langerhans-Inselzelle­n der Bauchspeic­heldrüse. Nach jedem kohlenhydr­athältigen Essen waren daher zu viele Zuckermole­küle in Teds Blut, der Körper konnte sie nicht verwerten. Die Gefahr einer nachhaltig­en Schädigung seiner Gefäße war groß. Zu allem Überdruss erhielten seine Muskeln viel zu wenig Energie.

Eines Tages las ein Onkel des Buben, praktizier­ender Arzt in New York City, Berichte von einer bahnbreche­nden Entdeckung: Dem kanadische­n Physiologe­n und Chirurgen Frederick Banting und seinem aus den USA stammenden Assistente­n und Medizinstu­denten Charles Best war am 27. Juli 1921 in einem Labor in Toronto die Isolierung von Insulin aus der abgeschnür­ten Bauchspeic­heldrüse eines Hundes gelungen, was die Basis für die Behandlung von Typ-1-Diabetiker­n mit dem Hormon sein sollte. Ein diabetisch­er Hund wurde damit erfolgreic­h behandelt, damals ein spektakulä­rer Erfolg. Ein rumänische­r Physiologe, Nicolae Paulescu, allerdings ein glühender Antisemit, soll mehreren Quellen zufolge ähnliche Ergebnisse erzielt haben.

Teds Onkel jedenfalls überredete den knapp 30-jährigen Banting, der noch nie zuvor einen Diabetiker behandelt hatte, das Kind in ein Versuchspr­ogramm aufzunehme­n. Ein Wagnis, das im Juli 1922 begann. Die einzige Alternativ­e aber war der baldige Tod, wie bei allen anderen Patienten und Patientinn­en des Typ-1Diabetes in dieser Zeit. Ted erholte sich rasch, und schrieb Banting später mehrere Briefe voller Dankbarkei­t, in denen er davon berichtete, wie stark er nun sei. Er lebte 76 Jahre, nachdem er 70 Jahre Diabetes gut gemeistert hatte. Zu Beginn der Behandlung hätte das wohl niemand für möglich gehalten, auch nicht Frederick Banting selbst.

Fast wie Hollywood

Die Geschichte von Ted Ryder ist ein bisschen wie ein HollywoodF­ilm. Sie wird besonders gern erzählt, wenn es darum geht, die unbestritt­en großen Leistungen des Wissenscha­fter-Duos Banting und Best zu würdigen. Der erfolgreic­h behandelte Bub war ja ein frühes Beispiel dafür, dass Typ-1-Diabetiker und -Diabetiker­innen mit einer entspreche­nden Insulinthe­rapie sehr wohl ein normales Leben führen können – heute noch viel mehr als in den Anfängen, weil es an die Bedürfniss­e der Zuckerkran­ken angepasste Therapien mit künstlich hergestell­ten Insulinen gibt.

Banting erhielt unzählige Ehrungen, eine wurde ihm 50 Jahre nach seinem Tod bei einem mysteriöse­n Flugzeugab­sturz über Neufundlan­d zuteil: Der Geburtstag des Wissenscha­fters, der 14. November, ist seit 1991 der Welt-Diabetes-Tag der Vereinten Nationen. Alljährlic­h wird zu diesem Anlass auf die Gefahren der Zuckerkran­kheit hingewiese­n, auf Zahlen, die weltweit deutlich ansteigen (derzeit etwa 420 Millionen Erkrankte), besonders aber in Ländern mit schwächere­m Einkommen. Etwa 90 Prozent der Betroffene­n leiden aber am Typ-2-Diabetes, bei dem zwar körpereige­nes Insulin produziert wird, der Körper es aber aufgrund vieler Faktoren (Bewegungsm­angel, Fettleibig­keit) nicht aufnehmen kann.

Der wahrschein­lich wichtigste Lorbeer Bantings verärgerte ihn aber vermutlich mehr, als sie ihn freute: Der Nobelpreis für Physiologi­e und Medizin 1923 ging an ihn und an seinen schottisch-kanadische­n Kollegen John James Rickard Macleod. Er hatte Banting ein Labor in Toronto und Best als Assistente­n zur Verfügung gestellt, er half Banting, einem ungeübten Redner, bei der Präsentati­on der Arbeit, spielte mit den jungen Wissenscha­ftern alle möglichen Probleme durch und gab vor einem Urlaub genaue Anweisunge­n zu inhaltlich­en und logistisch­en Themen in der Laborarbei­t. Macleod dürfte gewusst haben, wovon er spricht: Er lieferte noch vor der gelungenen Isolierung von Insulin wichtige Studien über Diabetes und den dabei gestörten Kohlenhydr­atstoffwec­hsel.

Proteste wegen Nobelpreis

Geläufige Erzählunge­n besagen, dass er nicht mehr Anteil daran hatte, als die Forschunge­n zu ermögliche­n. Banting protestier­te jedenfalls heftig gegen die Nobelpreis­vergabe und gab Best die Hälfte seines Preisgelds. Macleod aber übergab auch die Hälfte seines Preisgelde­s an einen jüngeren Kollegen: an den Biochemike­r James Collip, der nach den ersten Erfolgen innerhalb der Forschergr­uppe die Aufgabe übernommen hatte, das gewonnene tierische Insulin für den Gebrauch an menschlich­en Patienten zu reinigen.

Die Öffentlich­keit aber hat dessen Arbeit an der entscheide­nden Entdeckung genau so wie jene von Macleod jahrzehnte­lang kaum beachtet. Seit dem Buch The Discovery

of Diabetes des kanadische­n Historiker­s Michael Bliss (University of Chicago Press, 1982) wird an der Erzählung gerüttelt, dass ausschließ­lich Banting und Best Insulin entdeckt haben. Bliss berichtet in seinem Buch von heftigen Querelen zwischen den beiden späteren Nobelpreis­trägern – dabei dürfte Frederick Banting besonders heißblütig agiert haben, was auch sein Weggefährt­e Best bestätigte. Er soll Collip sogar körperlich angegriffe­n haben, wie die New York Times in einer Buchrezens­ion 1982 schrieb. Banting habe mehrfach gedroht, seine Arbeiten in anderen Laboren durchzufüh­ren. Der Wissenscha­fter dürfte auch Angst gehabt haben, dass ihm Kollegen wie Macleod und Collip den Erfolg streitig machen.

Romantisch­e Vorstellun­g

Die Geschichte zeigt, wie wichtig schon in den 1920er-Jahren Teamarbeit in der Wissenscha­ft war und wie wenig die längst widerlegte romantisch­e Vorstellun­g von forschende­n Einzelgäng­ern mit der genialen Idee stimmt. Für Millionen Diabetiker ist es vielleicht egal, wer das Insulin als Therapie für Diabetiker entdeckt hat. Dass es möglich wurde, weil der Wissenscha­ft Raum für Ideen und Experiment­e gegeben wurde, scheint aber gerade in Zeiten globaler medizinisc­her Herausford­erung eine Erinnerung wert zu sein.

 ??  ?? Charles Best, der im Alter selbst Diabetiker wurde, und Frederick Banting (rechts) mit einem der ersten Hunde, die erfolgreic­h behandelt wurden.
Charles Best, der im Alter selbst Diabetiker wurde, und Frederick Banting (rechts) mit einem der ersten Hunde, die erfolgreic­h behandelt wurden.
 ??  ?? Mittlerwei­le ein täglicher Begleiter von Typ-1-Diabetiker­n in westlichen Ländern: zweierlei Insulin-Pens und ein Blutzucker­messgerät.
Mittlerwei­le ein täglicher Begleiter von Typ-1-Diabetiker­n in westlichen Ländern: zweierlei Insulin-Pens und ein Blutzucker­messgerät.

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