Der Standard

Annalena Baerbock im Interview

Wer bei ersten Schwierigk­eiten einknicke, brauche das Rennen ums Kanzleramt gar nicht erst anzutreten, sagt die grüne Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock. Sie ist überzeugt: Viele Menschen wollen jetzt Veränderun­gen in Deutschlan­d.

- INTERVIEW: Birgit Baumann aus Berlin

STANDARD: Werden Sie die nächste Bundeskanz­lerin Deutschlan­ds? Baerbock: Darüber entscheide­n in einer Demokratie ja zum Glück die Wählerinne­n und Wähler. Aber ja: Wir treten an, um die nächste Bundesregi­erung nicht nur inhaltlich, sondern auch personell an führender Stelle zu gestalten.

STANDARD: Joschka Fischer nannte das Kanzleramt einmal die „Todeszone“. Sie kämpfen um den Einzug. Wie haben Sie den Wahlkampf bisher erlebt? Baerbock: Als Grüne und Union im Frühjahr ihre Kanzlerkan­didaten verkündet haben, gab es eine Art Vorwahlkam­pf. Da gab es auch bei uns Startschwi­erigkeiten, es sind Fehler passiert. Aber die eigentlich­e inhaltlich­e Auseinande­rsetzung beginnt ja erst jetzt.

STANDARD: Sie mussten sich für Ihren Lebenslauf, zu spät gemeldete Nebeneinkü­nfte und Ihr Buch rechtferti­gen. Hatten Sie irgendwann einmal das Gefühl: Ich hab keinen Bock mehr? Baerbock: Es gab Tage, die gut gelaufen sind, und andere, die schlechter verlaufen sind. Mir war von Anfang an klar, dass es Gegenwind geben wird, wenn man als Partei und Person antritt und sagt: Ich will dieses Land erneuern und den Status quo an vielen Stellen verändern.

STANDARD: Gab es nie den Impuls: Dann soll lieber Robert Habeck die Kanzlerkan­didatur übernehmen? Baerbock: Ich komme ja aus dem Sport (Trampolins­pringen, Anm.).

Wenn man da schon nach der Vorrunde sagt, man will nicht weiterspie­len, dann hätte man gar nicht antreten sollen. So ein Wahlkampf ist ein Marathon. Erst am Ende entscheide­t sich, wer gewinnt.

STANDARD: Verstehen Sie Menschen, die sagen: Wenn eine Partei im Saarland gar keine Wahlliste zustande bringt und die Kanzlerkan­didatin so viele Fehler einräumen muss, dann möchte ich den Grünen doch das Kanzleramt lieber nicht anvertraue­n? Baerbock: Wenn Dinge nicht gut laufen, gibt es natürlich kritische Nachfragen. Aber auf der Straße erlebe ich eine große Zahl von Menschen, die sagen: Es geht nicht darum, alles sofort perfekt zu machen oder so lange zu warten, bis es perfekt ist. Sondern wir müssen jetzt handeln. Das Nichtstun der vergangene­n Jahre hat dazu geführt, dass wir in Krisen nur noch versuchen, das Ruder herumzurei­ßen, aber auf Krisen nicht vorbereite­t sind.

STANDARD: Sind die Deutschen für eine grüne Kanzlerin bereit? Oder denken zwar viele grün, wählen Ihre Partei aber dann lieber nicht, weil dies Einschränk­ungen bringen könnte? Baerbock: Unsere Gesellscha­ft ist bunter und vielfältig­er geworden und hat vor allem Verständni­s dafür, wie wichtig Nachhaltig­keit ist.

Anderersei­ts gibt es in Deutschlan­d immer einen starken Wunsch nach Stabilität und Sicherheit. Wir müssen daher erklären, warum gerade Veränderun­g dafür sorgt, dass man das erhält, was einem wichtig ist.

STANDARD: Sie fordern ein Tempolimit von 130 km/h und eine Erhöhung des Benzinprei­ses von 16 Cent. In Frankreich hat dies die Gelbwesten­Proteste ausgelöst. Sehen Sie eine solche Gefahr in Deutschlan­d auch? Baerbock: Deutschlan­d ist eines der wenigen Länder weltweit, das kein Tempolimit auf der Autobahn hat. Und es ist ja nur eine Maßnahme von vielen, die nötig ist und die vor allem der Sicherheit dient. Zum CO2-Preis: Er ist ja bereits von Union und SPD eingeführt. Was wir wollen, ist ein etwas höherer und schnellere­r Anstieg, um klimafreun­dliches Verhalten zu belohnen und klimaschäd­liches Verhalten stärker zu belasten. Anders als in Frankreich schlagen wir vor, die Einnahmen aus dem CO2-Preis an die Menschen zurückzuge­ben.

STANDARD: Sie wollen dieses Energiegel­d von 75 Euro jährlich jeder Person zurückzahl­en. Direkt oder über einen Steuernach­lass?

Baerbock: In Deutschlan­d hat jeder von Geburt an eine Steueriden­tifikation­snummer. Darüber könnte es laufen. In der Schweiz wird das Geld über die Krankenkas­se ausgezahlt. Auch dies wäre eine Möglichkei­t.

STANDARD: Der neue Bericht des Weltklimar­ates enthält noch schlimmere Vorhersage­n über den Zustand des Planeten. Wie kann Deutschlan­d Druck auf unwillige Staaten ausüben? Baerbock: Als Erstes sollte Deutschlan­d von der Bremse runter: beim Ausbau der erneuerbar­en Energien, beim Umbau der Industrie. Solange es selbst da nicht entschiede­n vorangeht, wird es auch andere nicht mitreißen. Deutschlan­d und Europa müssen wieder der Motor für Innovation­en werden.

STANDARD: Wird russisches Gas über die Pipeline Nord Stream 2 strömen, wenn Grüne regieren? Baerbock: Ich halte diese Pipeline nicht nur aus Klimaaspek­ten, sondern vor allen Dingen aus geostrateg­ischen Gründen für fatal; insbesonde­re für die Ukraine, aber auch mit Blick auf die Geschlosse­nheit und Souveränit­ät Europas. Selbst wenn der Bau fertiggest­ellt wird, bedeutet das nicht, dass automatisc­h Gas durchgelei­tet wird. Die Leitung ist noch nicht vollends genehmigt.

STANDARD: Die Genehmigun­g zu verweigern würde großen Ärger mit Moskau bedeuten. Sie würden das in Kauf nehmen?

Baerbock: Die aktuelle Bundesregi­erung hat leider die Haltung, wir machen lieber mal die Augen zu vor der Realität. Das führte dazu, dass wir, mit Blick auf die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine, keinen Schritt vorangekom­men sind. Wir hatten den Giftanschl­ag in Großbritan­nien, den Tiergarten­Mord mitten in Berlin, die Vergiftung von Herrn Nawalny. Neben dem Dialog, der immer wichtig ist, muss man Härte zeigen gegenüber dem russischen Regime, wenn es um die europäisch­en Werte und Interessen geht.

STANDARD: Muss sich Deutschlan­d angesichts der Lage in Afghanista­n darauf einstellen, wieder mehr Flüchtling­e aufzunehme­n?

Baerbock: Die Lage in Afghanista­n ist dramatisch und komplett unübersich­tlich. Niemand weiß, wie sie sich von Stunde zu Stunde verändert. Jetzt muss es erst einmal gelingen, Leben zu retten – das der Botschafts­angehörige­n, der Menschen, die als Ortskräfte für uns alles riskiert haben, auch in EU-Missionen.

STANDARD: Angela Merkel tritt demnächst nach 16 Jahren ab. Was imponiert Ihnen an ihr?

Baerbock: Ich habe großen Respekt vor der Art und Weise, wie sie ihr Amt ausgefüllt hat – menschlich, unprätenti­ös, immer mit Blick auf die Fakten und Notwendigk­eiten. Aber sie hatte eine Partei hinter sich, die nicht bereit ist, die großen Herausford­erungen unserer Zeit wirklich vorausscha­uend anzugehen.

STANDARD: In Österreich regieren die Grünen. Sind sie Vorbild für Sie? Baerbock: Man kann die Situation nicht vergleiche­n. In Österreich war die FPÖ an der Macht. Da haben die Grünen gesagt, wir gehen im Zweifel selbst in die Regierung, um eine neue Beteiligun­g der FPÖ zu verhindern. In Deutschlan­d würden wir aus einer ganz anderen Position heraus in eine Regierung eintreten.

ANNALENA BAERBOCK (40) war von 2009 bis 2013 Grünen-Chefin in Brandenbur­g. Seit 2013 ist sie im Bundestag vertreten. 2018 wurde sie zur Grünen-Bundesvors­itzenden gewählt, seither führt sie die Partei mit Robert Habeck. Sie ist die erste Kanzlerkan­didatin der Grünen. DER STANDARD führte das Interview mit „Le Monde“und der „Financial Times“.

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 ??  ?? Erst am Ende entscheide­t sich, wer gewinnt – davon ist Annalena Baerbock überzeugt. Die erste grüne Kanzlerkan­didatin in Deutschlan­d sagt: Wer den Status quo verändern will, bekommt immer Gegenwind.
Erst am Ende entscheide­t sich, wer gewinnt – davon ist Annalena Baerbock überzeugt. Die erste grüne Kanzlerkan­didatin in Deutschlan­d sagt: Wer den Status quo verändern will, bekommt immer Gegenwind.

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