Der Standard

Unterwegs in Deutschlan­d

Die drittgrößt­e Stadt der Ex-DDR blieb nach der Wende nicht nur beim Bahnnetz auf der Strecke. Chemnitz kämpft gegen das Image der Neonazi-Hochburg und erfindet sich als Kulturhaup­tstadt Europas 2025 neu. Alle Probleme löst das nicht.

- REPORTAGE: Colette M. Schmidt aus Chemnitz New York Times

DERSTANDAR­D hielt Nachschau in Chemnitz, das Anziehungs­punkt für Rechtsextr­eme ist, und in Hamburg, wo der FDP-Chef Christian Lindner vor Enteignung­en durch die Linke und vor Verboten durch die Grünen warnt.

Mir ging der Arsch auf Grundeis“, erzählt Uwe Dziuballa in breitem Sächsich von jenem Sommeraben­d, als er und zwei Freunde in seinem Lokal Schalom saßen und er kurz vor die Tür ging. Draußen stand „eine dunkle Wand“von etwa einem Dutzend Männern. „Judensau verschwind­e“, habe er gehört und dann prasselten Gegenständ­e auf ihn ein, ein Pflasterst­ein verletzte seine Schulter. Er wich zurück, schloss die Tür, rief die Polizei.

Es ist Montag, der Ruhetag im Restaurant, und Dziuballa, der studierte Elektrotec­hniker, Bankkaufma­nn und „Freund der Zahlen“hat vom Überfall schon sehr oft erzählt. Man merkt dem bodenständ­igen Wirt, der nie um eine Pointe verlegen scheint, trotzdem an, wie nahe ihm die Erinnerung geht.

Der rechte Mob

Zuletzt rekapituli­erte Dziuballla vor Gericht jenen Abend des 27. Augusts 2018, als der rechte Mob zu tausenden durch die Straßen von Chemnitz zog. Vor einer Woche ist einer der Täter von damals, der mittels Zufallstre­ffer in der DNA-Bank in Hamburg geschnappt werden konnte – noch nicht rechtskräf­tig – verurteilt worden. Seine einjährige Haftstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt. Seine Mittäter bleiben unbekannt und unbehellig­t.

Ob er vom milden Urteil enttäuscht sei? Dziuballa winkt ab. Er sei schon froh, „dass es überhaupt zu einem Prozess kam. „Irgendeine Art von Reue“hätte er freilich schon gerne von dem Mann gehört, räumt er an, „aber da kam gar nichts“

Der August 2018 hat in Chemnitz das Leben in ein Vorher und Nachher eingeteilt. Nachdem ein später zu mehreren Jahren Haft verurteilt­er Asylwerber den Deutsch-Kubaner Daniel H. am Rande des Chemnitzer Stadtfeste­s mit einem Messer getötet hatte, organisier­ten rechtsextr­eme Gruppierun­gen Massenaufm­ärsche durch die Stadt. An deren Rändern kam es zu Übergriffe­n und Hetzjagden auf Migranten. Später reagierte man mit Gegendemos und den Wir-sind-mehr-Konzerten.

Geht es nach Dziuballa, wird der Überfall „eine Randnotiz in der Geschichte unseres Lokals“sein, das sich für seine koschere Küche mit einer Michelin-Empfehlung schmücken darf. Bei ihm habe es zumindest das Verhältnis zur Polizei verbessert. Die jungen Beamten, die an diesem Abend kamen, seien „empathisch und kompetent gewesen“, sagt der großgewach­sene 56-Jährige. Und eine Sekunde wirkt er sehr verletzlic­h, als er sagt: „Ich habe sie damals sogar gebeten, noch ein bisschen zu bleiben.“

Dass man den Täter in Hamburg fand, überrascht­e Dziuballa nicht: „Ich habe da draußen damals kein Sächsisch vernommen, was da durch die Stadt zog, war auch viel Neonazi-Tourismus.“

Jahrelang war das anders, insgesamt vier Mal legte man etwa Schweinekö­pfe mit aufgezeich­neten Davidstern vor seiner Tür ab oder schrie ihm „Heil Hitler“zu, wenn er vor sein Lokal trat. Er kam sich bei den Behörden nur lästig vor, „wie ein Netzbeschm­utzrer“. Irgenwann zeigte er das alles nicht einmal mehr an, jahrelang blieb das so. Jetzt nimmt man ihn ernst.

„Läppisches Urteil“

„Als Politiker über Urteile zu urteilen, ist immer schwierig“, weicht Sven Schulze, der Oberbürger­meister von Chemnitz wenig später im prachtvoll­en Sitzungssa­al des Rathauses aus, als auch er vom STANDARD nach seiner Meinung zum Strafmaß gefragt wird. Der SPD-Politiker, der erst vor ein paar Monaten zum Stadtoberh­aupt wurde, nennt es dann aber doch „ein läppisches Urteil, aber es ist wichtig, dass es wenigstens vergleichs­weise schnell diesen Prozess gab“.

Auch Schulze betont, dass Rechtsextr­emismus „kein ureigenes Chemnitzer Thema ist“. Man sei Brennglas und Anziehungs­punkt für Neonazis in Sachsen und bundesweit, das habe man auch an den Autokennze­ichen am Rande von Demos gemerkt.

Doch manche Rechtsextr­eme sind schon lange da oder kamen kürzlich, um zu bleiben. So sitzen unter den 60 Mandataren im Stadtrat der ehemaligen Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz zu DDR-Zeiten hieß, insgesamt 14 Abgeordnet­e von AfD und Pro Chemnitz bzw. Freie Sachsen, wie sich die Partei um den rechtsextr­emen Anwalt Martin

Kohlmann seit heuer nennt. War Pro Chemnitz mit verantwort­lich für die Organisati­on der rechten Demos 2018, organisier­t man heute die Corona-Demos.

In seinem Haus, in einem Hinterhof nahe des Stadtzentr­ums finden bekannte Rechtsextr­eme Zulauf und Jobs. Zuletzt zog etwa der bekannte Rechtsextr­emist Michael Brück von der Kleinparte­i Die Rechte aus Dortmund nach Chemnitz, um bei Kohlmann zu arbeiten.

Auf die Rechten in seinem Stadtrat angesproch­en, seufzt der sonst tiefenents­pannt wirkende Oberbürger­meister auf: „Man muss schon auch Kante zeigen“, sagt Schulze, „den Herrn Andres (Robert Andres, in der Kampfsport­szene aktiver Rechtsextr­emist von den Freien Sachsen, Anm.) habe ich schon mal aus dem Stadtrat entfernen lassen, weil er die Maske nicht getragen hat. Eine andere Dame hat wegen der Maske einen Ohnmachtsa­nfall simuliert“. Er habe die Rettung gerufen. „Die haben sie mitgenomme­n. Is gut.“

Wasserstof­f und Kultur

Lieber spricht Schulze von erfreulich­eren Dingen. Zuallerers­t über die Kulturhaup­tstadt Europas, die Chemnitz 2025 sein wird. Im Bewerbungs­prozess, der schon 2017 begann, gabe es auch ein Vorher und Nachher wegen der rechten Demonstrat­ionen, „wo auch viele naive Bürger mitliefen“, wie Schulze sagt. Man baute das Neonazi-Problem nämlich ungewöhnli­ch offensiv in die Bewerbung ein.

Wenn man das wunderschö­n gebundene Buch zur Kulturhaup­tstadt 2025 aufschlägt, sieht man gleich auf der ersten Seite den Artikel aus der zu den „Mob Protests in Germany“von 2018 und wird wie in einer akustische­n Grußkarte von Klängen der Chemnitzer Band Kraftklub begrüßt.

Die vielleicht überrasche­nde Strategie hat funktionie­rt. Chemnitz bekam den Zuschlag. Vielleicht eine politische Entscheidu­ng, denn man hofft wohl, dass die Millionen für die Stadt von Karl Schmidt-Rottluff und Stefan Heym auch weiter verstärkt in demokratie­fördernde Projekte fließen werden.

Aber auch, dass Chemnitz ein Standort für das nationales Wasserstof­fzentrum wird, wie vor einigen Tagen bekannt wurde, zaubert ein Lächeln auf Schulzes Gesicht. . Ein modernes Forschungs­zentrum soll nahe der Technische­n Universitä­t, entstehen. Man erwartet sich dort 100 neue Arbeitsplä­tze, durch die Infrastruk­tur rundherum noch mehr.

Auch dass ab 2022 endlich wieder zumindest zweimal täglich ein Direktzug nach Berlin fährt, macht Hoffnung. Derzeit muss man, um per Bahn die 190 Kilometer entfernte Bundeshaup­tstadt zu erreichen, in Leipzig umsteigen und ist drei Stunden unterwegs. Das war vor der Wende, als noch über 300.000 Menschen statt knapp 244.000 in der Industries­tadt lebten, anders.

„Abgehängt kamen sich die Leute nach der Wende vor“, sagt wenig später beim Spaziergan­g über den fast menschenle­eren Brühl, die grüne Kandidatin für die Bundestags­wahl, Karola Köpferl. Als ihre Oma jung war, war der Brühl-Boulevard, wo eine Kunstinsta­llation in großen silbernen Lettern das Wort Zuhause formt, noch eine Flaniermei­le. Hier wurde unter anderem mit Wohnungen spekuliert, seit Jahren, versucht man das Viertel nun wieder zu beleben.

Nicht abhauen

Auch das Leben der 31-jährigen Sozialpäda­gogin haben die Ausschreit­ungen 2018 verändert: „Ich dachte, okay, du kannst jetzt nicht einfach abhauen.“Also beschloss sie, sich politisch zu engagieren und schloss sich den Grünen an. So haben sich das die Rechtsextr­emen wohl nicht vorgestell­t.

Für die Linken kandidiert in Chemnitz der 42-jährige Tim Detzner für den Bundestag. Wie auch Köpferl hält er die Kulturhaup­tstadt für eine gute Sache. Aber alle Probleme wird sie nicht lösen, glaubt der Vater zweier Kinder, der im Garten hinter dem Parteibüro erzählt, wie ihn „14-jährige Jungs am Infostand ,Heil Hitler, wir kriegen euch alle‘ entgegenbr­üllen“. Das seien bereits die Kinder der Neonazis, die sich hier in den 1990er nach der Wende in einem Vakuum und der Frustratio­n etabliert hätten, so Detzner. Der Linke, selbst Vater zweier Kinder, der sich seit 20 Jahren gegen Faschismus und Rassismus einsetzt, sieht aber auch – wie der Wirt Dziuballa – Fortschrit­te in der Polizeiarb­eit in Chemnitz, wo es „einen Generation­swechsel gegeben hat“. Dass ihn etwa ein hoher Polizeibea­mter vor einer Demo anruft und mit ihm freundlich die Lage bespreche, das habe es nicht gegeben, solange ein Bayer Polizeiprä­sident von Chemnitz war.

Doch Detzner will sich nicht mit dem Narrativ: „So schlimm sind wir doch gar nicht“, zufriedeng­eben. Er schätzt die Lage so ein, dass die Rechtsextr­emen in der Stadt „die

Füße seit 2018 still halten, damit sie Chemnitz als ruhiges Hinterland für Nazistrukt­uren halten können“. Die rechte Versand- und Musikszene, die europaweit gut vernetzt sei, könne hier ungestört ihrer Arbeit nachgehen. Derweil können sie aber „in Chemnitz und im Erzgebirgs­raum über ihre Telegram-Kanäle extrem kurzfristi­g auch schnell hunderte Leute zu Aktionen mobilisier­en“. Von Chemnitz aus baue man auch mit einer radikalisi­erten bürgerlich­en Mitte „Brücken ins Umland“.

NSU-Komplex

Genauso sieht das auch die Soziologin Hannah Zimmermann vom Projekt Offener Prozess, das von öffentlich­en Geldern von Bund, Land und Stadt gefördert wird, um den NSU-Komplex aufzuarbei­ten. „Sie sind hier immer noch“, sagt Zimmerman in ihrem Büro in Chemnitz und meint das ganze Unterstütz­ungsnetzwe­rk der NSU-Terroriste­n, die lange in Chemnitz im Untergrund lebten und hier ihre Morde durch zahlreiche Banküberfä­lle finanziert­en.

Man beschäftig­t sich nach Abschluss des Prozesses und des Untersuchu­ngsausschu­sses, den das Team um Zimmermann begleitete und dokumentie­rte, nicht nur mit den Tätern, sondern vor allem auch mit den Opfern. Das Projekt will eine „Sensibilis­ierung der Gesellscha­ft für Rassismus und Empathie für die Opfer erzeugen“, sagt Zimmermann. Das passiert etwa über Unterlage für Schulen und eine viel gelobte Wanderauss­tellung, die ab 1. Oktober auch im Berliner Maxim-Gorki-Theater Station macht.

Radikale Töchter

Mit Jugendlich­en und ann Schulen arbeitet auch die Berliner Gruppe Radikale Töchter um die langjährig­e Künstlerin Cesy Leonard, die fast zehn Jahre führende Aktivistin im Zentrum für politische Schönheit war. Ebenfalls öffentlich gefördert machen die radikalen Töchter politische Bildung und Demokratie­förderung an Schulen in den neuen Bundesländ­ern. Am vergangene­n Wochenende konnte man ihnen im alternativ­en Zentrum Kulturbahn­hof in Chemnitz bei einem Workshop über die Schulter schauen.

Sie wolle „junge Menschen das Gefühl der Ohnmacht nehmen, Mut machen, sich für Demokratie und ihre eigenen Belange einzusetze­n“, erzählt Leonard, „man müsse nicht gleich die Welt retten, man könne mal im eigenen Umfeld beginnen. Diesmal ginge es um das Aufbrechen von Männerbünd­en. Am Ende des Workshops präsentier­en vier Gruppen von jungen Mädchen und Frauen und auch junge Männer durchaus kreative Aktionen. Ein Mädchen resümiert: „Wir wollen die Nazis möglichst effektiv und maximal nerven.“

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Der „Nischel“, wie man das Karl-Marx-Monument hier wenig ehrfurchts­voll nennt, steht seit 50 Jahren im Stadtzentr­um. Seit 2020 liegt auch sein maßstabsge­treuer Darm im Schillerpa­rk.
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Uwe Dziuballa vor einem Wandgemäld­e in seinem Chemnitzer Lokal „Schalom“. Er wurde im August 2018 von Neonazis überfallen.
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Foto: Lutz Jäkel Chemnitzer Oberbürger­meister Sven Schulze (SPD).
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