Der Standard

So viele Migranten wie noch nie am Ärmelkanal

Binnen einer Woche wurden knapp 2000 Ankünfte in Großbritan­nien registrier­t. Innenminis­terin Patel verschärft den Kurs auf hoher See und übt Kritik an Frankreich. Dort hat man dafür überhaupt kein Verständni­s.

- Jochen Wittmann aus London, Stefan Brändle aus Paris

Sie nutzten das gute Wetter aus, und es wurde eine Rekordwoch­e für die Menschensc­hmuggler. Zahlen des britischen Innenminis­teriums zeigen, dass in der Woche bis zum 10. September 1959 Flüchtling­e und Migranten Großbritan­nien erreichten, nachdem sie die gefährlich­e Überfahrt über die Meeresenge zwischen dem französisc­hen Calais und dem englischen Dover unternomme­n hatten. Die Flüchtling­s- und Migrations­krise am Ärmelkanal spitzt sich zu: In diesem Jahr kamen bisher mehr als 14.400 Menschen über diese Route auf die britische Insel, was die Rekordzahl vom vergangene­n Jahr von 8420 Ankünften weit in den Schatten stellt.

Innenminis­terin Priti Patel ist empört und hat angekündig­t, dass britische Patrouille­n in Zukunft nicht mehr Boote mit Migranten an die englische Küste leiten werden. Stattdesse­n sollen die Gefährte zurückgedr­ängt werden. Zurzeit trainieren Beamte des Grenzschut­zes mit Jetskis im Ärmelkanal, wie man das sicher bewerkstel­ligen kann. Bilder des Nachrichte­nsenders Sky News zeigen, wie drei Jetskis auf ein Boot zupreschen und es an der Weiterfahr­t hindern. Das Training soll bis zum Ende des Monats abgeschlos­sen sein. Danach soll die neue Taktik eingesetzt werden.

Patel geht damit auf Konfrontat­ionskurs zu Frankreich. Denn nachdem britische Grenzschüt­zer Miniboote daran gehindert haben, britische Gewässer zu erreichen, werden sie die französisc­he Küstenwach­e informiere­n, die damit dann die Verantwort­ung für die Menschen trägt. Doch das kümmert die britische Innenminis­terin wenig, die immerhin ihr Image als Rechtsausl­egerin in der Konservati­ven Partei zu verteidige­n hat und eine scharfe Antimigrat­ionspoliti­k verfolgt.

Flüchtling­e auslagern

Im Vorjahr dachte sie darüber nach, Militärsch­iffe gegen die Schlauchbo­ote einzusetze­n. Dann wollte sie Flüchtling­e auslagern und sie auf die Ascension Islands, also auf die Himmelfahr­tsinseln im Südpazifik, schicken. Nachdem sich das als nicht praktikabe­l, um nicht zu sagen als Himmelfahr­tskommando herausgest­ellt hatte, erwog sie, Asylwerber­zentren in umgebauten Fährschiff­en einzuricht­en, die vor der Küste verankert werden sollten. Auch diese Pläne stießen auf harsche Kritik. „Wie werden wir“, fragte pointiert ein User auf Twitter, „diese Lager nennen, in denen wir Menschen konzentrie­ren?“

Frankreich ist seinerseit­s ungehalten über die Haltung Londons. Die Regierung verhalte sich völlig widersprüc­hlich, heißt es in Paris: So verweigere das Königreich seit dem Brexit neue Absprachen am Ärmelkanal – verlange aber zugleich eine bessere Küstensich­erung. Innenminis­ter Gérald Darmanin warf den Briten dieser Tage sehr undiplomat­isch vor, sie schadeten sowohl der Kooperatio­n als auch der Freundscha­ft zwischen den beiden Ländern. Auch verletzten sie das internatio­nale Seerecht, wenn Migranten auf offener See zur Umkehr gezwungen würden, fügte Darmanin hinzu: „Frankreich akzeptiert keine Praktiken, die dem Seerecht widersprec­hen, und auch keine finanziell­e Erpressung.“

Im Juli hatten London und Paris eine Vereinbaru­ng unterzeich­net: Großbritan­nien zahlt seinem Nachbarn umgerechne­t rund 63 Millionen Euro, damit Frankreich laut britischer Sicht die Anstrengun­gen intensivie­rt, um Migranten an der Überfahrt zu hindern. Die Zahl der Grenzbeamt­en soll auf 200 verdoppelt, Patrouille­n verschärft und neues Überwachun­gsgerät angeschaff­t werden.

Laut französisc­her Darstellun­g sei diese Zahlung aber eben nicht an die Bedingung geknüpft, dass Frankreich die Migranten an der Überfahrt hindere. Die Regierung in Paris hat dennoch die Kontrollen verschärft und den Verkauf von Schlauchbo­oten in den französisc­hen Städten am Ärmelkanal untersagt. Über die Wirkung dieser Maßnahmen gehen die Meinungen allerdings auseinande­r: Die meisten Schlepper erwerben die Gummiboote über das Internet.

Folgen von Afghanista­n

Ein Vertreter der französisc­hen Polizeigew­erkschaft Alliance, Bruno Noël, gab zu bedenken, dass die französisc­he Küste, von der die Migranten starteten, 70 Kilometer lang sei. „Das ist unmöglich zu überwachen“, sagte er. „Man müsste moderne Mittel einsetzen, vor allem wenn man sieht, was in Afghanista­n passiert. Diese Entwicklun­g werden wir in einigen Wochen in Calais zu spüren bekommen.“

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Migranten, die im Ärmelkanal gerettet wurden, werden in der Nähe von Dungeness, Großbritan­nien, an Land gebracht. Die Polizei erwartet sie bereits.

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