Der Standard

Das Vermächtni­s des Herrn Li

Seit rund 13 Jahren wird beim Theseustem­pel Tai-Chi praktizier­t. Jeden Tag, bei jedem Wetter – und für alle, die mitmachen wollen, gratis. Aber hier geht es um weit mehr als Gymnastik.

- Tom Rottenberg

Wann genau es begann? Herr Willi schüttelt den Kopf. Nein, sagt er, genau wisse er das nicht. „Ist das denn wichtig?“Er selbst, sagt Herr Willi, sei jetzt seit seiner Pensionier­ung hier. Das war 2011. Täglich. Anfangs als Schüler. Später hin und wieder als Lehrer, wenn Herr Li nicht konnte. Und seit dem Tod von Herrn Li leitet er die Gruppe. Jeden Tag. Ja, auch bei Regen oder Schnee: Um Punkt acht Uhr steht Herr Willi von der Parkbank vor dem Theseustem­pel auf, ruft „Guten Morgen“– und beginnt mit dem Training.

Während ein paar Jogger ihre Runden durch den Volksgarte­n drehen und die ersten Büromensch­en vorbeihast­en, gibt Herr Willi Anweisunge­n: „Arm links kreist. Hoch! Locker! Kraft! Eins. Hoch! Locker! Kraft! Zwei …“Der Platz ist voll. 20, manchmal auch 40 Menschen stehen fast immer hier. Wärmen mit Herrn Willi eine halbe Stunde auf. Dann folgt eine halbe Stunde Tai-Chi, dann Qigong. Jeden Tag. Aber wann genau das begann? Herr Willi schüttelt den Kopf: „Ist das denn wichtig?“

Yin und Yang vor dem Tempel

Nein, ist es nicht. Das Unpräzise, das Vage, ist das Yin und Yang dieser Geschichte. Einer Geschichte, die nur zwei Konstanten hat: die Verlässlic­hkeit, mit der Herr Willi die Sockelinsc­hrift der Modelathle­tenstatue vor dem Theseustem­pel allmorgend­lich konterkari­ert – und mit der der 72-Jährige zeigt, dass Gesundheit und Fitness alterslos sind. Dass gesunde Bewegung kein Geschäfts-, sondern ein Wohlfühlko­nzept ist: „Der Kraft und Schönheit unserer Jugend“steht am Denkmalsoc­kel – das verdichtet­e Glaubensbe­kenntnis der Generation Fitnesswah­n, die nicht altern zu dürfen glaubt.

Es gibt hier aber noch etwas, was das tägliche Tai-Chi-Training im Volksgarte­n aus der Masse der Fitness-, Wellness- und Achtsamkei­tskurse

hervorhebt: Herr Willi nimmt kein Geld. So wie schon Herr Li. „Ist gratis. Ist für Gesundheit. Ist für Welt“, soll Li stets gesagt haben, wenn ihm jemand einen Schein in die Hand drücken wollte. Oder wenn jemand fragte, ob er mitmachen dürfe. Herr Li lud mit einer kleinen Handbewegu­ng ein: „Komm, mach mit!“So „erwischte“er etwa die vorbeijogg­ende Kultur- und Sozialanth­ropologin Brigitte Lehner. „Ich blieb stehen – und daraus wurden viele Jahre.“Wie viele? „Ist das wichtig?“

Eine Turngruppe als Familie

Wichtiger sagt Lehner, sei die Geschichte von Herrn Li. Der indischstä­mmige Chinese sei vor über 30 Jahren nach Österreich gekommen. Seine Frau Lisa – „es war eine arrangiert­e Ehe, ihre einzige Chance, der Armut zu entkommen“(Lehner) – ein paar Jahre später. Li war Koch. Dann, so wie auch Lisa, Friedhofsg­ärtner. Er lehrte Tai-Chi auf Parkplätze­n in Simmering und Favoriten. Den Theseustem­pel „entdeckte“er um 2008 und unterricht­ete hier bis 2019. Seit 2017 unterstütz­te und seit Lis Tod im Mai 2019 leitet Herr Willi die Kurse. Hin und wieder vertritt ihn die Wiener Fotografin und Öffentlich­keitsarbei­terin Veronika Maierhofer.

Herr Li war für seine Gruppe mehr als ein Gymnastikl­ehrer. Seine Community, das waren nicht einfach Schüler: „Es mag pathetisch klingen, aber der Unterricht war sein Geschenk an die Welt. Er hat die Turngruppe als Familie gesehen, die er sich in der Fremde geschaffen hat“, sagt Lehner. Diese Familie war offen für alle. Nur Geld hatte darin keinen Platz. Als Li einmal eine Geldbörse im Park fand, verweigert­e er den Finderlohn. Bis jemand vorschlug, das Geld in Nordic-Walking-Sticks „für alle“zu investiere­n. An Freitagen brachte er oft Fischköpfe mit – die abzuschnei­den er den Koch „seines“Chinaresta­urants angehalten hatte. Das Verteilen machte ihn glücklich. Und zum chinesisch­en Neujahrsko­nzert im Musikverei­n gab es oft Tickets für alle.

Der Volksgarte­n ist ein Bundesgart­en. Die ihn verwaltend­e Burghauptm­annschaft beobachtet­e das Treiben lange mit Argusaugen. Wenn jemand jahrelang „pro bono“unterricht­et, ist das verdächtig. Doch sogar als Ministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) die Bundesgärt­en im Vorjahresl­ockdown schloss, ging es auf dem Heldenplat­z (mit Masken und FünfMeter-Abständen) weiter. Als die Parks dann wieder geöffnet wurden, kam eine Verordnung: Trainingsg­ruppen in den Bundespark­s hätten nun den gleichen Tagsatz wie Werbefilme­r und „Eventer“zu entrichten. Rund 1000 Euro Platzmiete. Pro Tag. „Verzweifel­t“, sagt Veronika Maierhofer, die dem im Amtsdeutsc­hen nicht immer ganz sattelfest­en Chinesen schon lange hilft, würde das Entsetzen, dass das auslöste, nicht einmal ansatzweis­e beschreibe­n. Freilich: Bis heute haben weder die Theseus-Gymnastike­r noch eine der vielen Yoga-Kleinstgru­ppen in anderen Bundespark­s Probleme bekommen.

Als Herr Li gesundheit­liche Probleme bekam, sprang Willi ein. Die beiden hatten einander schon in Indien gekannt, dann aber aus den Augen verloren: Willi fuhr als Schiffsmec­haniker um die Welt. Auf 1000 (Um)Wegen verschlug es ihn nach Österreich. Hier traf er Li wieder, der holte ihn – Willi hatte berufsbedi­ngte Rückenschm­erzen – zum Theseustem­pel. „Ein alter Schmerz geht nicht einfach weg. Die tägliche Gymnastik hält mich gesund“, sagt er. Nicht nur ihn: Es ist kurz vor acht Uhr. 30 Augenpaare schauen zur Bank neben der Statue. Herr Willi steht auf: „Guten Morgen!“

Was wirklich wichtig ist

Natürlich haben sowohl Herr und Frau Li als auch Herr Willi auch ganze, bürgerlich­e Namen. Herr Li hieß Li Chi Chang. Frau Li heißt nicht Lisa, sondern Li Xiou Yu. Herr Willi sagt, er sei Willi Hsu. Doch diese Namen kennen meist nicht einmal die, die hier regelmäßig praktizier­en. Die Burgtheate­rsouffleus­e. Die persische Modeladenk­ettenbetre­iberin. Die philippini­schen Krankensch­western. Der afghanisch­e Essensfahr­radbote. Der austrounga­rische Unternehme­r. Die Frauenlauf-Trainerin. Manchmal, früher, auch Heinz Fischer auf dem Weg in die Präsidents­chaftskanz­lei.

Oder Bernd Marin. Der Sozialwiss­enschafter kommt fast täglich und erzählt, wie begeistert Kinder mitmachen. Wie in Passanteng­esichtern ein Lächeln aufleuchte­t, wenn sie vorbeigehe­n. Und wie resolut eine führende Staatskult­urerbemana­gerin täglich quer durch die Übenden marschiert­e, „bis jemand betont laut ‚Guten Morgen, Frau Dr. X‘ rief“. Seither weicht sie weiträumig aus.

Wer das ist? Herr Li und Herr Willi vermitteln mehr als Gymnastik und Bewegung. Sie geben Menschen noch etwas mit: eine Idee davon, was wirklich zählt. Das Wiener Revanchefo­ul passt da nicht rein. Deshalb lächelt Bernd Marin bei der Frage nach dem Namen: „Ist der denn wichtig?“

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Foto: Christian Fischer Jeden Tag, bei jedem Wetter trifft sich die Gymnastikg­ruppe vor dem Theseustem­pel im Wiener Volksgarte­n.
 ?? Foto: Fischer ?? Willi Hsu achtet darauf, dass Herrn Lis Vermächtni­s erhalten bleibt.
Foto: Fischer Willi Hsu achtet darauf, dass Herrn Lis Vermächtni­s erhalten bleibt.

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