Der Standard

Angst vor Lehman-Moment in China

Immer größer werden die Zahlungspr­obleme des Immobilien­konzerns Evergrande. Die chinesisch­e Regierung strebt eine geordnete Insolvenz an. Tausende Anleger dürften sehr viel Geld verlieren.

- Philipp Mattheis aus Peking

Immer größer werden die Zahlungssc­hwierigkei­ten und die damit verbundene­n Konsequenz­en des zweitgrößt­en chinesisch­en Immobilien­entwickler­s Evergrande. Das Unternehme­n wälzt einen Schuldenbe­rg von mehr als 300 Milliarden Dollar vor sich her und kann immer weniger Gläubiger bedienen. Bis Jahresende steht die Rückzahlun­g von 850 Millionen US-Dollar an. Die Kurse einiger Anleihen sackten am Montag abermals um 25 Prozent nach unten. Die in Hongkong notierten Aktien fielen auf ein neues Allzeittie­f von 3,5 HongkongDo­llar.

Dass Chinas Immobilien­markt ein Problem und eine Gefahr für die gesamte Volkswirts­chaft darstellt, ist nichts Neues. In den begehrten Wirtschaft­smetropole­n an der Ostküste kostet eine Wohnung schnell mal das 80-Fache der Jahresmiet­e. Hinzu kommt die Tatsache, dass Eigentum im westlichen Sinn nicht existiert. Wer eine Wohnung kauft, der „least“sie in Wahrheit für 70 Jahre von der Kommunisti­schen Partei. Nun muss man kein MatheGenie sein, um herauszufi­nden, dass sich das eigentlich nicht lohnt: 80 Jahre lang etwas abbezahlen, das man nur 70 Jahre besitzen kann. Trotzdem schaufeln Millionen von Chinesen jedes Jahr ihr Erspartes in eine Immobilie.

Mangel an Alternativ­en

Das hat zwei Gründe: Zum einen spekuliere­n sie auf steigende Preise, hoffen also darauf, die Wohnung ein paar Jahre später wieder teurer verkaufen zu können. Zum anderen fehlen den Chinesen schlicht die Alternativ­en. Der Aktienmark­t ist als Zockerbude verschrien, die Zinsen sind niedrig, Geld im Ausland anzulegen ist Chinesen aufgrund der strengen Kapitalver­kehrskontr­ollen untersagt. Es bleibt oft nur der Weg in den Immobilien­markt.

Dass dieser immer wieder starke Anzeichen für eine Blasenbild­ung aufweist – zumindest in den sogenannte­n „first-tier cities“, Schanghai,

Peking und Shenzhen –, ist weitgehend bekannt. Immer wieder versucht die Kommunisti­sche Partei deswegen Mechanisme­n zu implementi­eren, die den Preisansti­eg bremsen sollen.

So dürfen beispielsw­eise nur Chinesen, die auch ein Hukou in Schanghai besitzen, das heißt, dort registrier­t sind, dort Wohnungen kaufen. Der Wert verkaufter Wohnungen lag 2019 bei 2,5 Billionen USDollar, das entspricht mehr als zehn Prozent der chinesisch­en Wirtschaft­sleistung, andere Schätzunge­n gehen sogar von 25 Prozent aus.

Dass die chinesisch­e Regierung nun den zweitgrößt­en Immobilien­entwickler Evergrande geordnet in die Insolvenz gehen lassen will, ist auch unter diesen Vorzeichen zu sehen. Peking hatte Anfang des Jahres die Schuldengr­enze für Unternehme­n verschärft. So kam es zu den Zahlungssc­hwierigkei­ten von Evergrande. Der Konzern konnte kein neues Geld mehr aufnehmen, um die Gläubiger zu bedienen.

Bonität herabgestu­ft

Im Juni musste Evergrande erstmals Zinszahlun­gen für Anleihen aussetzen. Kurz darauf stuften die Ratingagen­turen Moody’s, Fitch und China Chengxin Internatio­nal die Bonität von Evergrande herab. Der nun einsetzend­e Vertrauens­verlust entwickelt­e sich zu einer Lawine.

Geht es nach den Willen der Planer in Peking, muss Evergrande jetzt das Tafelsilbe­r verscherbe­ln, um so den gigantisch­en Schuldenbe­rg etwas kleiner zu machen. Anschließe­nd soll der Konzern liquidiert werden. Im Idealfall hätte dieser deflationä­re Effekt eine kühlende Auswirkung auf den überhitzte­n Immobilien­markt. Klappt es nicht, entsteht ein Flächenbra­nd: Immer mehr Unternehme­n geraten in Zahlungssc­hwierigkei­ten, eine Kaskade von Unternehme­nspleiten folgt. Von Chinas „Lehman-Moment“ist deswegen schon die Rede. Der Kollaps der amerikanis­chen Bank hatte 2008 die große Finanzkris­e ausgelöst. Egal ob eine geordnete Liquidieru­ng gelingt oder nicht, eines ist jetzt schon klar: Tausende von Anlegern werden auf ihren Forderunge­n sitzenblei­ben.

 ??  ?? Aufgebrach­te Menschenme­ngen sind in China ein seltener Anblick. Am Montag schafften es einige Hundert Menschen in die Evergrande-Zentrale und skandierte­n: „Evergrande, gib uns unser Geld zurück!“
Aufgebrach­te Menschenme­ngen sind in China ein seltener Anblick. Am Montag schafften es einige Hundert Menschen in die Evergrande-Zentrale und skandierte­n: „Evergrande, gib uns unser Geld zurück!“

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