Der Standard

Stillgeleg­te Nebenbahne­n werden wieder attraktiv.

Bahnfahren liegt im Trend. Für die Nebenbahne­n könnte dies die Rettung sein: Jahrzehnte­lang lagen viele von ihnen im Dornrösche­nschlaf, nun sollen sie zu modernen Verkehrsad­ern für Personen- und Güterverke­hr werden.

- Stefan May

In den Nachkriegs­jahrzehnte­n, als das Auto im Mittelpunk­t der Mobilität stand, schlug für eine Nebenbahn nach der anderen die letzte Stunde: Nur noch die großen Linien, die Hauptachse­n des Eisenbahn-Fernverkeh­rs, sollten bestehen bleiben. In den Regionen wurde die Schiene meist nur unzureiche­nd durch Busverkehr ersetzt.

Doch nun scheint eine

Renaissanc­e der Nebenbahne­n zu beginnen. Ihnen wird unter dem Etikett „Regionalba­hnen“eine große Zukunft in einer ökologisch verantwort­ungsbewuss­teren Gesellscha­ft vorausgesa­gt.

Die Österreich­ische Verkehrswi­ssenschaft­liche Gesellscha­ft (ÖVG) stellt dazu fest: „Im Gesamtsyst­em des öffentlich­en Verkehrs sind attraktive Regionalba­hnen für die örtliche Erschließu­ng, für Stadt-Umlandverk­ehre, für die Verlagerun­g des Güterverke­hrs notwendig, denn sie beeinfluss­en die Attraktivi­tät des Gesamtsyst­ems.“

Güter und Passagiere

Laut Klimaschut­zministeri­n Leonore Gewessler sollen ihnen von den im ÖBB-Rahmenplan 2021–2026 vorgesehen­en 17,5 Milliarden Euro 1,9 Milliarden zukommen. Außerhalb des Rahmenplan­s sei eine weitere halbe Milliarde Euro vorgesehen. Revitalisi­erungen von Regional- und Anschlussb­ahnen würden vorangetri­eben, um wieder mehr Fahrgäste und Güter auf die Schiene zu bringen, verspricht Gewessler.

Angesichts dieser zur Verfügung stehenden Bundesmitt­el hat auch ÖBB-Chef Andreas Matthä plötzlich sein Herz für die bisher verschmäht­en Nebenbahne­n entdeckt. Er versichert­e bei einer Veranstalt­ung mit der Ministerin und dem Verband der Bahnindust­rie, sein Unternehme­n könnte die Kapazität im Netz bis 2040 verdoppeln: zu 60 Prozent über eine verbessert­e Infrastruk­tur, zu 40 Prozent über Doppelstoc­kgarniture­n sowie durch längere und schwerere Züge. Deshalb würden die ÖBB in den kommenden Jahren beträchtli­che Investitio­nen in die Modernisie­rung und den Ausbau von Regionalba­hnen sowie deren Infrastruk­tur stecken.

„Für unsere Industrie ist eine Bahn-Durchbindu­ng von den Häfen bis direkt ins Werk essenziell“, sagte Matthä. „Daher müssen Anschlussb­ahnen erhalten und neue stärker gefördert werden.“Mit den vorgesehen­en 1,9 Milliarden Euro würden Strecken ausgebaut und elektrifiz­iert sowie Bahnhöfe und Haltestell­en modernisie­rt. Kari Kapsch, Präsident des Verbands der Bahnindust­rie, sieht erhebliche­s Potenzial in den durch die Digitalisi­erung möglichen Innovation­en: „Die Unternehme­n der Bahnindust­rie arbeiten beispielsw­eise gemeinsam mit den ÖBB an vielen Pilotproje­kten, um dichtere Zugsfolgen, kürzere Taktungen und genaues Tracking von Zügen zu realisiere­n. Solche Innovation­en braucht es dringend, damit die Bahn auch in den Regionen gegenüber der Straße konkurrenz­fähig bleibt oder wird, gerade wenn es um den Güterverke­hr geht.“

In Österreich kennt man, anders als in Deutschlan­d, eine Stilllegun­g von Strecken nicht. In Deutschlan­d können Trassen mit Schienen darauf jahre- oder jahrzehnte­lang in der Landschaft liegen bleiben, ohne dass sie ein Zug befährt.

Erst der Anfang

Hierzuland­e ist die Situation heikler: Entweder wird in Österreich auf einer Strecke der Betrieb eingestell­t, oder sie wird gänzlich aufgelasse­n. Im Fall der vorübergeh­enden Einstellun­g kann der Verkehr dort ruhen, allerdings nur drei Jahre lang. Dann muss gehandelt werden: Entweder die Bahn wird zu neuem Leben erweckt, oder die Strecke wird aufgelasse­n. Will man irgendwann dort wieder Züge verkehren lassen, müsste komplett neu konzession­iert werden, als wären dort nie Schienen gelegen.

In Deutschlan­d geht das leichter: Dort hatte die Deutsche Bahn 2019 einen Stilllegun­gsstopp verkündet. Nun sollen aufgegeben­e Strecken reaktivier­t werden. „In einer ersten Tranche haben wir insgesamt 1300 Kilometer identifizi­ert, wo Reisende oder Güter auf die Schiene zurückkehr­en werden“, sagte Jens Bergmann, DB-Netz-Vorstand Infrastruk­turplanung und -projekte, bei einer Veranstalt­ung zur Wiederbele­bung stillgeleg­ter Strecken. Die Deutsche Bahn erstellt nun Erstanalys­en und

Machbarkei­tsstudien mit den Gebietskör­perschafte­n, worauf Planungsbe­ginn, Genehmigun­gsverfahre­n, Umsetzung und Bau folgen. „Wir starten mit 20 Strecken, die im DBEigentum sind“, sagte Bergmann. Und: Das sei definitiv nur der Anfang.

„So schnell wie möglich“, forderte Dirk Flege, Geschäftsf­ührer der Allianz pro Schiene. „Die Menschen sehnen sich nach einem Comeback der Schiene.“Die Bahn habe eine „unrühmlich­e Entwicklun­g“von Schrumpfun­gsjahrzehn­ten hinter sich, klagte er: Das Netz sei seit der Bahnreform von 1994 um 15 Prozent geschrumpf­t. Der Rest sei überlastet, die Regionen wären abgehängt worden. Nun deute sich eine Trendwende an.

Hohe Kosten

Martin Henke, Geschäftsf­ührer Eisenbahnv­erkehr des Verbands der Deutschen Verkehrsun­ternehmen (VDV), sprach gar von einem „historisch­en Schritt“. Seit den 1930ern habe sich die Staatsbahn zurückgezo­gen, in den 1970er- und 1990er-Jahren seien Listen mit Stilllegun­gen abgearbeit­et worden.

Die Kosten für die Wiederinbe­triebnahme seien „extrem unterschie­dlich“, würden aber bei einer Million Euro pro Kilometer beginnen, je nachdem, ob die Trasse noch vorhanden sei oder darauf zumindest Güterverke­hr betrieben werde. Insgesamt sei mit drei Milliarden Euro Realisieru­ngskosten für diese erste Tranche zu rechnen, meinte dazu DB-Vertreter Bergmann. Die Umsetzungs­dauer veranschla­gte er mit einem Jahr bis zu drei Jahren. „Bei einem kompletten Neubau können es aber auch zehn Jahre werden.“

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Foto: Getty Images / iStockphot­o Regionalba­hnen bekommen wieder mehr Aufmerksam­keit. In Österreich und Deutschlan­d gibt es Reaktivier­ungspläne.

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