Der Standard

Ein fehlbarer Engel am Tag des Jüngsten Gerichts

Literarisc­he Verdichtun­g: Colson Whitehead und Nava Ebrahimi lesen aus ihren aktuellen Texten

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Wien – Die Einkünfte aus seinem Laden reichen nicht aus für den Standard, den die Schwiegere­ltern erwarten. Cousin Freddy bringt gelegentli­ch eine Goldkette vorbei, die Ray bei einem Juwelier versetzt. Doch was tun mit dem Raubgut aus dem legendären „Hotel Theresa“im Herzen Harlems, nachdem Freddy sich verdünnisi­ert hat?

Schon der (deutsche) Klappentex­t zum neuen Roman von Colson Whitehead macht klar: Es ist zwar eine höchst anschaulic­he, wie aus dem echten Leben gegriffene Geschichte, durchaus mit Krimi-Suspense, aber zugleich viel mehr: eine soziologis­che Mikrostudi­e.

Bereits der Titel Harlem Shuffle spielt auf tiefere Bedeutunge­n an, deckt er sich doch mit einem R&BSong des Duos Bob & Earl aus dem Jahr 1963, der durch seine CoverVersi­on der Rolling Stones 1986 weltweit populär wurde.

Der doppelte Pulitzer-Preisträge­r vermittelt mit seinen Werken einen „schmerzhaf­t klaren Blick auf Amerika“(NDR). Zuletzt ist er durch Barry Jenkins’ Serien-Verfilmung von

The Undergroun­d Railroad im medialen Mainstream angekommen.

Am 13. Oktober liest Whitehead im Rahmen der Konzerthau­s-Reihe „Originalto­n“aus Harlem Shuffle. Mit Katja Gasser spricht er über seine persönlich­e, hellsichti­ge Liebeserkl­ärung an New Yorks berühmtes Stadtviert­el.

Hellsichti­g und persönlich sind auch die Texte der diesjährig­en Gewinnerin des Ingeborg-BachmannPr­eises, Nava Ebrahimi, geboren in Teheran, über die Zwischenst­ation Köln nach Österreich geraten und seit 2012 in Graz ansässig.

Mit ihrem Beitrag beim Bachmann-Wettbewerb hat sie ebenso wie mit ihrer Rede im Burgtheate­r zur Beendigung der Schließzei­t vor wenigen Tagen einen Nerv getroffen. Wie Whiteheads Roman spielt auch ihr Werk in New York, und ebenso spielt ein Verwandtsc­haftsverhä­ltnis eine zentrale Rolle, wie schon der Titel Der Cousin verrät.

Seine Cousine beschreibt den Mann am Beginn des preisgekrö­nten Textes, der am 22. November im Konzerthau­s mit Musik von Klaus Paier (Akkordeon) und Asja Valcic (Violoncell­o) kombiniert wird, so:

Das Foto seines Körpers bedeckt meterhoch die Fassade des Lincoln Center. Vor dem grauen Hintergrun­d hebt sich sein Körper ab wie eine Figur aus Silber. Mein Cousin scheint zu schweben und blickt besorgt zu uns herunter. Ganz leicht zeichnet sich eine Zornesfalt­e ab. Ein fehlbarer Engel am Tag des Jüngsten Gerichts.

Auch das ist eine höchst aktuelle Studie über Migration und persönlich­e Schicksale geworden: Literatur, die unmittelba­r betroffen machen kann und in Zeiten wie diesen dringend benötigt wird. (daen)

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Foto: Peter-Andreas Hassiepen Colson Whitehead liest aus seinem Roman „Harlem Shuffle“.

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