Der Standard

Politische­s Erdbeben in Tunesien durch Präsident Saied

- Sarah Mersch aus Tunis

Tunesiens Präsident Kais Saied hat seine Machtposit­ion weiter ausgebaut. In einem am Mittwochab­end veröffentl­ichten Dekret setzte er weite Teile der Verfassung außer Kraft. Er werde in Zukunft per Dekret regieren, ließ Saied mitteilen, und selbst Regierungs­chef sowie Kabinett ernennen. Die Arbeit des Parlaments bleibe ausgesetzt. Lediglich die Eingangsbe­stimmungen der Verfassung, die nach dem Sturz von Langzeithe­rrscher Zine El Abidine Ben Ali im Jänner 2011 erarbeitet worden waren, und das Kapitel zu Rechten und Freiheiten der Bürger blieben in Kraft.

Saied will mit Unterstütz­ung einer Expertenko­mmission eine Reihe von Verfassung­sreformen erarbeiten, die dann der Bevölkerun­g zur Abstimmung vorgelegt werden sollten. Wahrschein­lich wird er das politische System und das Wahlrecht ändern. In der Vergangenh­eit war das Parlament so zersplitte­rt, dass es nicht handlungsf­ähig war und keine Regierung über eine stabile Mehrheit verfügte.

„Bedrohung des Staates“

„Die aktuellen politische­n Institutio­nen sind, so wie sie funktionie­rt haben, eine dauerhafte Bedrohung des Staates“, hat Saied Ende August erklärt. „Das Parlament selbst bedroht den Staat.“Dies legitimier­e sein Vorgehen, erklärte er.

Der 63-jährige parteilose Kais Saied, der im Herbst 2019 mit fast drei Viertel der Stimmen im zweiten Wahlgang zum Präsidente­n gewählt worden war, ist pensionier­ter Dozent für Verfassung­srecht. Seine Auslegung des Notstandsr­echts, auf das er sich seit seiner Machtübern­ahme am 25. Juli bezieht, ist jedoch hochumstri­tten. Verfassung­srechtler Rabeh Khraifi sprach angesichts der neuen Maßnahmen in einem tunesische­n Radiosende­r von einem „politische­n und verfassung­srechtlich­en Erdbeben“, geht aber davon aus, dass sich Saied nach wie vor im Rahmen der Verfassung bewege.

Die Juristin Sana Ben Achour warf Saied hingegen in den sozialen Medien vor, die Bevölkerun­g zu manipulier­en. „Heute Abend sind die Masken gefallen“, schrieb sie.

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